«Persönlichkeitsschule» für Havertz, Werner & Co. - Löw gespalten

Joachim Löw, Cheftrainer der deutschen Fußballnationalmannschaft, nimmt an einer Pressekonferenz in Frankfurt teil. Foto: epa/Armando Babani
Joachim Löw, Cheftrainer der deutschen Fußballnationalmannschaft, nimmt an einer Pressekonferenz in Frankfurt teil. Foto: epa/Armando Babani

LONDON: Kai Havertz ist zum teuersten deutschen Nationalspieler aufgestiegen. Nicht nur das DFB-Juwel wagt in diesem Sommer den Schritt ins Ausland. Von der Bundesliga-Flucht der jungen Profis profitiert auch die Nationalmannschaft. Sagt Joachim Löw - ist aber auch gespalten.

Kai Havertz grinst in die Kamera. Das Ausnahmetalent, seit Freitag der teuerste deutsche Fußball-Nationalspieler, steht an der ruhmreichen Stamford Bridge und hält sein neues, blaues Trikot mit der für ihn ungewöhnlichen Rückennummer 3 in die Kamera. «Ich könnte nicht stolzer sein», schreibt der für kumulierte angeblich 100 Millionen Euro von Bayer Leverkusen zum FC Chelsea gewechselte 21-Jährige dazu. Das Instagram-Foto des Jungstars ist fast ein Symbolbild für einen Trend, der auch Joachim Löw gefällt.

«Man fängt bei null an, egal, was man vorher erreicht oder gezeigt hat. Und das ist natürlich schon eine Persönlichkeitsschule», sagte der Bundestrainer zum Havertz-Wechsel in die britische Hauptstadt und grundsätzlich zu den Transfers junger Spieler ins Ausland. Die Profis kämen «in eine andere Lebenskultur, das hilft manchmal». Natürlich auch der Nationalmannschaft.

Von den 20 Spielern, die Löw noch im Kader für das Nations-League-Spiel am Sonntag in der Schweiz hatte, sind nur noch zehn bei Bundesliga-Clubs angestellt. Allerdings hatte der DFB-Chefcoach auf vier Triple-Gewinner des FC Bayern und zwei Champions-League-Halbfinalisten von RB Leipzig verzichtet.

Robin Gosens hatte sich sein Debüt am Donnerstag gegen Spanien durch eine starke Saison bei Atalanta Bergamo verdient. Robin Koch (24) war in diesem Sommer zu Leeds United gewechselt, Luca Waldschmidt (24) zu Benfica Lissabon. Beide verließen den SC Freiburg, wo Löw vor der Corona-Pandemie des Öfteren auf der Tribüne gesessen hat.

«In den letzten zehn Jahren», sagte der Bundestrainer, habe er schon «einige Spieler» gesehen, die im Ausland «gereift» seien. Jüngstes Paradebeispiel ist der Neu-Münchner Leroy Sané (24), der im Alter von 20 Jahren von Schalke 04 zu Manchester City gewechselt war und dort unter Star-Trainer Pep Guardiola und als Teamkollege von Ilkay Gündogan einen großen Schritt Richtung Weltklasse gemacht hat. Auch bei Havertz sprach Löw vom möglichen «nächsten Karrieresprung».

Diesen hat Weltmeister Toni Kroos definitiv hinter sich. «Kai steht nun vor dem nächsten Schritt und einer neuen Situation. Auch darauf muss er sich erstmal einstellen, sich daran gewöhnen», sagte der Mittelfeldstar von Real Madrid in einem Interview der «Bild am Sonntag».

Grundsätzlich sieht der 30-Jährige einen Wechsel ins Ausland als Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. «Das macht einen als Spieler besser, das macht einen als Persönlichkeit besser», sagte Kroos im «Aktuellen Sportstudio» des ZDF. Es könne jedem nur gut tun, mit dem Druck umzugehen, sich gegen starke Konkurrenz durchsetzen zu wollen. Dazu komme eine andere Sprache.

Gündogan sagte in einem Interview der «Welt am Sonntag»: «Es fällt seit geraumer Zeit auf, dass deutsche Spieler wieder interessanter für ausländische Clubs geworden sind.» Dies liege seiner Meinung nach «an der qualitativ guten Ausbildung und auch an der Qualität des Bundesliga-Fußballs». Es werde von den Spielern «wieder mehr realisiert, dass man im Ausland wichtige Erfahrungen sammeln kann».

Vor dem gebürtigen Aachener Havertz, der angeblich auch von anderen Großclubs umworben war, war in diesem Sommer bereits Timo Werner (24) von RB Leipzig zu den Blues nach London gewechselt. Antonio Rüdiger (27) spielt schon seit 2017 für Chelsea. «Das wird den Einstieg auch ein bisschen erleichtern», sagte Löw. Sein Trainerkollege Frank Lampard kann in der Premier League auf eine deutsche Achse bauen.

Um das nicht zu gefährden, hatte Löw am vergangenen Donnerstag beim 1:1 gegen Spanien auf Havertz verzichtet, obwohl dieser dem deutschen Spiel gutgetan hätte. «Wenn es um solche Dimensionen geht, die Größenordnung kennen wir alle, dann hätte es keinen Sinn gemacht. Da haben wir die Verantwortung, A für den Spieler und B für den deutschen Fußball», sagte der Bundestrainer.

Im Vorjahr war der Wechsel von Sané zum FC Bayern noch gescheitert, da Guardiola den Offensivmann im Community Shield eingesetzt hatte und dieser dann einen Kreuzbandriss erlitt. Havertz blieb ein solches Szenario erspart, und sein Traum konnte mit dem Wechsel zu den Blues Wirklichkeit werden.

Die Medienabteilung des FC Chelsea kündigte den Neuzugang auf der Internetseite des Clubs als Alleskönner aus der Bundesliga an. Lobeshymnen begleiten den Mittelfeldspieler seit Beginn seiner Karriere. Bayer-Sportchef Rudi Völler würdigte den 21-Jährigen als «schon jetzt Weltklasse». Havertz sei «mit Sicherheit einer der Besten, die jemals für Bayer 04 gespielt haben».

Löw bemerkte bei aller Anerkennung für die Entscheidung seines Nationalspielers allerdings auch einen negativen Aspekt. «Wenn solche Spieler und solch großartige Talente wie der Kai aus der Bundesliga gehen, ist das immer etwas Negatives, finde ich», sagte der Bundestrainer, «weil die deutschen Fans natürlich auch gerne solche Spieler sehen.»

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