Matterhorn und Mont Blanc kränkeln

ZERMATT/COURMAYEUR (dpa) - Der Mont Blanc und das Matterhorn sind zwei der berühmtesten Berge der Alpen. Doch der Klimawandel verändert sie tiefgehend. Auch auf einer herbstlichen Wandertour lauern Gefahren.

Der Bergführer ist am Matterhorn mit seinem Gast kurz unter dem Gipfel unterwegs, als die Tragödie passiert: die beiden Männer stürzen im Juli aus 4300 Metern in den Tod, weil ein Stück Fels ausbricht. Beim Wandern am Gantrisch im Berner Oberland erschlägt ein herabstürzender Stein in diesem Sommer eine Frau. Im August bricht oberhalb von Brienz in Graubünden ein 100 Tonnen schwerer Felsbrocken ab und stürzt auf ein Feld neben einer Schule. Auf italienischer Seite am Mont Blanc bewegt sich ein Gletscher schneller in Richtung Tal. Der Bürgermeister lässt Straßen sperren. Die Menschen sind alarmiert. Was ist mit den Alpen los?

Dass das Matterhorn bröckelt und seine weltbekannte Gestalt mit der zipfelmützenartigen Spitze demnächst verliert, ist nicht zu erwarten. Dass uralte Bergsteigerrouten zu gefährlich werden, dagegen schon. Der Klimawandel hinterlässt Spuren. «Patient Matterhorn», titelt die «Schweizer Illustrierte». Jan Beutel, Bergführer und Forscher an der Schweizer Elite-Universität ETH, hat vor elf Jahren am Matterhorn Sensoren installiert. «Da, wo wir früher unseren Rastplatz hatten, sollte man sich heute nicht mehr länger aufhalten», sagt er. Steinschlaggefahr. «Alles, was größer ist als ein halber Apfel, ist potenziell tödlich.»

Felsveränderungen habe es zwar schon immer gegeben. Aber: «Keine Frage: es gibt zunehmend größere Felsstürze», sagt Beutel. Die ETH-Forscher untersuchen den Einfluss des Klimawandels auf die Stabilität von steilen Felswänden. Sie haben auf 3500 Metern Höhe an 29 Stellen Geräte installiert, die seit 2008 praktisch rund um die Uhr unter anderem Fotos machen, Spalten und Schwingungen messen und akustische Signale registrieren. Die Grundlagenforschung soll Muster für Vorhersagen möglicher Felsstürze liefern.

Für das Bröckeln ist unter anderem das Auftauen des Permafrosts verantwortlich. Permafrost ist Gestein und Sediment, das das ganze Jahr über gefroren ist. «Wir sehen beim Permafrost einen deutlichen Trend zur Erwärmung, der sich insbesondere seit 2010 zeigt», sagt Jeannette Nötzli, Permafrost-Expertin am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos.

Im Rahmen des Schweizer Permafrostmessnetzes (PERMOS) misst Nötzli mit anderen Wissenschaftlern an 16 Standorten in den Schweizer Alpen die Permafrosttemperaturen in Bohrlöchern von 20 bis 100 Metern Tiefe. Im Sommer tauten die obersten Meter der Permafrostschicht auf. «Es gibt eine klare Tendenz, dass diese Auftauschicht immer mächtiger wird», sagt Nötzli. Nach dem heißen Sommer seien die Temperaturen in den oberen Schichten sehr hoch gewesen. Ob die Auftauschicht in neue Rekordtiefen reicht, könne erst im Herbst beurteilt werden.

«Wir begegnen wachsenden Naturgefahren», sagt Rolf Sägesser, beim Schweizer Alpenclub Fachleiter für die Ausbildung und Sicherheit im Sommer. «Gelände, das früher problemlos zu begehen war, ist heute anspruchsvoller» sagt er. «Auf Höhentouren muss man häufiger einen Helm tragen.»

Am Blockgletscher Corvatsch-Murtèl bei St. Moritz in Graubünden ist der Permafrost in 20 Metern Tiefe minus 1,2 Grad Celsius kalt, gut ein halbes Grad wärmer als zu Beginn der Messungen vor 32 Jahren. Der Unterschied mag sich gering anhören. Doch seien die meisten Permafrostvorkommen in den Alpen nur wenige Grad unter Null kalt und schon eine kleine Temperaturzunahme könne große Folgen haben, sagt Nötzli: «Wärmeres Eis verformt sich schneller und ist weniger stabil.» Das führe etwa dazu, dass Blockgletscher sich schneller bewegten, wie «eisdurchsetzte kriechende Schutthalden». «Transportieren diese schneller Material nach vorne, können zum Beispiel mehr Murgänge abgehen», sagt Nötzli.

Zum Tauen der Permafrostschicht kommt, dass bei den höheren Temperaturen mehr Schnee schmilzt und Wasser in Felsspalten dringt, sagt Beutel. «Als es noch mehr Eisbedeckung gab, ist Regenwasser über das Eis abgelaufen, aber heute geht es durch Felsrisse direkt in die Tiefe», sagt er. Dabei baue sich enormer Wasserdruck auf, der irgendwann Felsstücke wegsprengen könne. Auch an den Gletschern wird es gefährlicher. Wo Eis geschmolzen ist, bleibt instabiles Geröll zurück, und das teils in sehr steilen Hängen.

Am Piz Cengalo in Graubünden stürzten 2017 etwa drei bis vier Millionen Kubikmeter Fels ins Tal. Acht Wanderer kamen ums Leben. Schutt und Geröll verbanden sich mit Schmelzwasser und Eis und wälzten sich als riesiger Murgang bis ins Dorf Bondo. Das Bundesamt für Umwelt schätzt den Anteil instabiler Gebiete auf sechs bis acht Prozent der Fläche. An der Zunge des größten Gletschers der Alpen, des Aletsch, rutschte im Oktober 2016 ein Hang weg und verschüttete Wanderwege.

Brienz, ein Dorf mit 80 Einwohnern zwischen Lenzerheide und Davos, lebt mit einer tickenden Zeitbombe: Oberhalb des Albulatals sind Felsmassen in Bewegung, das Dorf selbst schiebt sich bereits mit einem Meter pro Jahr vorwärts. Der Berg wird permanent überwacht. Mindestens sechs Stunden Vorwarnzeit gebe es, bevor die bis zu 22 Millionen Kubikmeter Felsmassen hinabstürzten, glauben Geologen.

Die Gefahren veranlassen Bergführer zu neuen Mahnungen: «Die Alpen sind kein Freizeitpark», sagt Beutel. Am Matterhorn gingen mehr Touristen heute wieder mit Bergführern. «Manche Wanderer schauen sich im Netz Fotos von Bergtouren an, gehen einfach los und stellen dann fest, vor Ort schaut es ganz anders aus», sagt Sägesser.

Anders sieht es mittlerweile auch auf dem höchsten Berg der Alpen aus, dem Mont Blanc. Das meint zumindest einer, der ihn schon mehrmals bestiegen hat. Er erkenne den Berg nicht wieder, sagte der 76-jährige italienische Bergführer Pietro Giglio unlängst der Zeitung «La Repubblica». «Bis vor kurzem war der Weg zum Gipfel auf italienischer Seite nicht viel anders als zu meiner Jugendzeit. Jetzt ist der Anstieg sehr steil, überall tauchen Felsen auf, die das Eis freigelegt hat. Weiter unten öffnen sich immer größere Risse schon zu Beginn der Saison», so Giglio.

Auf der italienischen Seite des Mont Blancs, der an der Grenze zu Frankreich steht, ist gerade Alarmstimmung. Denn dort bewegt sich der spektakuläre Planpincieux-Gletscher infolge der Erwärmung schneller in Richtung Tal. Der Bürgermeister des beliebten Skiorts Courmayeur ließ aus Sorge vor einem Abbruch zwei Zugangsstraßen im Val Ferret sperren. Ein Radar wurde am Gletscher angebracht, um jeden Tag zu verfolgen, wie sich die Eismassen bewegen.

Könnten nun tonnenweise Eis herabrutschen und Bewohner und Touristen unter sich begraben? Nein. «Für das Val Ferret gibt es kein Risiko, selbst wenn 250.000 Kubikmeter herunterrutschen», sagte der Klimatologe Massimiliano Fazzini von der Universität in Ferrara. Er warnt vor überzogenen Warnungen in dem speziellen Fall. «Einwohner und Touristen sind nicht in Gefahr - selbst wenn Touristen paradoxerweise von der jetzigen Situation angezogen werden.» Wenn der Gletscher kollabiere, dann sei aber auch die Touristenattraktion dahin.

Der Forscher betont immer wieder, dass die Regierung in Italien endlich erwachen müsste und einen nationalen Klimawandel-Plan erstellen müsste. Denn der Planpincieux-Gletscher sei kein Einzelfall. Vor 20 Jahren habe es in Italien noch 93 Gletscher gegeben, nun seien es 104. Das bedeute, dass sich die einst größeren Gletscher durch den Temperaturanstieg teilten und somit vermehrten. Insgesamt geht damit aber Gletscherfläche verloren.

Courmayeurs Bürgermeister Stefano Miserocchi betonte, es sei wichtig, «angesichts des Klimawandels immer mehr vorzubeugen». Was genau er damit meinte, ließ er offen. Gleichzeitig versuchte er vor allem Angst vor einem Gletscher-Kollaps zu zerstreuen. Auf der Webseite der Gemeinde ist daher nun groß zu lesen: «Courmayeur ist nicht in Gefahr. Der Mont Blanc stürzt nicht ein.»

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