Parteitag der britischen Tories

Verwandlung zur «Brexit-Sekte»?

Foto: epa/Neil Hall
Foto: epa/Neil Hall

MANCHESTER (dpa) - Die Johnson-Regierung nutzt den Parteitag der Konservativen, um Wahlkampf zu machen. Sie setzt auf die Brexit-Müdigkeit der Briten und verspricht einen schnellen Austritt um jeden Preis. Aber kann Premierminister Boris Johnson das liefern?

«Brexit durchziehen» - auf dem Parteitag der britischen Konservativen in dieser Woche ist dieser Slogan allgegenwärtig. Er hängt auf Bannern von der Decke und prangt auf Stickern, die Teilnehmer auf ihren Jacken tragen. Und «Brexit durchziehen» wird immer und immer wieder gepredigt von den Bühnen der zum Konferenzzentrum umfunktionierten viktorianischen Bahnhofshalle in Manchester.

Den EU-Austritt durchzuziehen, komme was wolle, ist das zentrale Versprechen von Premierminister Boris Johnson. Mehr als drei Jahre nach dem Referendum über die EU-Mitgliedschaft haben viele Briten genug von dem Thema. Sie wollen, dass der Alptraum so schnell wie möglich endet. Einige würden dafür auch einen Austritt ohne Abkommen, einen No-Deal-Brexit, in Kauf nehmen - selbst wenn das schwere Konsequenzen für die Wirtschaft und andere Lebensbereiche hätte.

Eine Stimmung, die man auch auf dem Parteitag spüren kann. «Ich habe für den Verbleib in der EU gestimmt, aber jetzt habe ich die Nase gestrichen voll», sagt der 65 Jahre alte Alan Donnelly, der für die Tories im Gemeinderat der schottischen Stadt Aberdeen sitzt. «Ich will raus, so schnell wie möglich.» Das sei traurig, aber so gehe es ihm inzwischen.

Immer und immer wieder versprechen die Parteigrößen in Manchester genau das: Man werde zur Not am 31. Oktober ohne ein Brexit-Abkommen aus der Europäischen Union austreten. Sie ernten damit artigen Applaus - echte Begeisterung sieht anders aus. Daran ändern auch die im Publikum verteilten «Brexit durchziehen»-Schilder nichts, die besonders loyale Parteianhänger bei jeder Gelegenheit hochhalten.

Womöglich merken die Menschen, dass Redner wie Außenminister Dominic Raab und Brexit-Minister Steve Barclay nicht so klingen, als wären sie von ihren eigenen Worten überzeugt. Vielleicht ist auch dem einen oder anderen mulmig angesichts des harten Kurses, den die Partei eingeschlagen hat. 21 teils altgediente Tory-Mitglieder hat Johnson aus der Fraktion geworfen, weil sie einen No-Deal nicht mittragen wollen.

Der einzige, der sich in den ersten Tagen der Parteikonferenz über stürmischen Beifall freuen kann, ist der schrullige, erzkonservative Jacob Rees-Mogg. Akkurat gescheitelt, Nickelbrille auf der Nase und in seinem etwas zu groß geratenen Nadelstreifenanzug wirkt er wie ein Zeitreisender aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er hat stets ein Anekdötchen aus der guten alten Zeit auf Lager oder teilt einen einfallsreichen Seitenhieb auf die Opposition aus. Er verkörpert den unbeschwerten Brexit-Optimismus, der nicht mehr allzu oft anzutreffen ist angesichts des jahrelangen Gezerres.

Denn dem Versprechen der Regierung steht ein gewaltiges Argument entgegen: Das Parlament hat vor einigen Wochen ein Gesetz verabschiedet, das den Premierminister zum Antrag auf eine Verlängerung der Brexit-Frist verpflichtet, sollte bis zum 19. Oktober kein Abkommen ratifiziert sein. Wie die Regierung das Gesetz umgehen will, hat noch niemand überzeugend beantwortet. «Ich glaube, es zu wissen» war die zaghafte Antwort von Finanzminister Sajid Javid dazu in einem Gespräch mit der BBC am Montag. Premierminister Johnson schwieg sich dazu in einem Fernsehinterview am Sonntag aus.

Möglicherweise wird Johnson nach Ende des Parteitags einen konkreten Plan vorlegen, wie er doch noch einen Deal mit der EU schließen will. Das zumindest berichtete unter anderen die BBC unter Berufung auf Insider. Damit wäre das Problem vielleicht gelöst - doch ob die EU dem zustimmen und Johnson anschließend eine Mehrheit im Parlament finden würde, ist mehr als zweifelhaft.

Womöglich blufft die Regierung auch einfach, weil der Brexit nur als Mittel zum Zweck für den Sieg bei einer Neuwahl gilt. Noch gibt es keinen Wahltermin, doch eine baldige Abstimmung ist unumgänglich. Johnson hat keine Mehrheit mehr im Parlament und noch jede einzelne Abstimmung verloren. Bislang verweigert die Opposition eine Neuwahl, weil sie dem Premier zutraut, nach Auflösung des Parlaments über irgendeinen Trick doch noch einen No-Deal-Brexit am 31. Oktober herbeizuführen.

Der Tory-Parteitag trägt jedenfalls alle Züge einer Wahlkampfveranstaltung: Jeden Tag macht die Regierung neue Ankündigungen für milliardenschwere Investitionen in Krankenhäuser, Verkehrsinfrastruktur, Polizei, Schulen. Wie das alles finanziert werden soll, bleibt im Vagen.

Dem Wahlforscher John Curtice zufolge hat Johnson gar keine andere Option, als sich im Streit um den EU-Austritt sogar noch radikaler als bisher zu positionieren. Nur dann kann er genügend Wähler von der Brexit-Partei abwerben, um eine stabile Mehrheit im Parlament zu erringen. Doch der Preis könnte hoch sein. Der Churchill-Enkel Nicholas Soames, der zu den verstoßenen Tory-Mitgliedern im Parlament gehört, klagte kürzlich, die Partei wandle sich immer mehr zu einer Brexit-Sekte.

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