Palastrevolte im Schatten der Proteste

Ein Polizeifahrzeug der kasachischen Polizei durchquert eine Straße im Zentrum von Nur-Sultan, der Hauptstadt Kasachstans. Foto: epa/Radmir Fahrutdinov
Ein Polizeifahrzeug der kasachischen Polizei durchquert eine Straße im Zentrum von Nur-Sultan, der Hauptstadt Kasachstans. Foto: epa/Radmir Fahrutdinov

NUR-SULTAN: Nach dem Chaos einer blutigen Protestwoche geht es in Kasachstan um die Aufarbeitung der Geschehnisse. Immer klarer wird, dass die Sicherheitskräfte wohl nicht nur gegen gewöhnliche Bürger vorgingen. Der Präsident spricht von einem Putschversuch - doch stimmt das?

In der kasachischen Millionenstadt Almaty wird aufgeräumt: Ausgebrannte Autos werden abgeschleppt, Verkäuferinnen kehren Scherben vor ihren geplünderten Geschäften zusammen. Eine Woche schwerster Ausschreitungen mit Gefechten zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten hat Spuren hinterlassen. Langsam stabilisiert sich die Lage - und das Ausmaß wird auch auf den Straßen deutlich. «Die Bilder von der zerstörten Stadt sind wirklich schrecklich», schreibt eine Einwohnerin der Deutschen Presse-Agentur.

Deutlich wird nun auch, dass die Zerstörung wohl keinesfalls nur eine Folge von Unmut durchschnittlicher Bürger über gestiegene Treibstoffpreise, Korruption und die autoritäre Staatsführung war. Die Machtverhältnisse in Kasachstan haben sich nach dieser Woche, die viele Menschen das Leben kostete, zumindest verschoben.

Kasachische Experten sind sich zunehmend einig, dass es neben vielen friedlichen Demonstranten offenbar auch organisierte gewalttätige Randalierer gab - insbesondere in Almaty, Kasachstans größter Stadt und ihrem wirtschaftlichen Zentrum. Diese beiden Gruppen gelte es streng zu trennen, betont die Soziologin Diana Kudajbergenowa, die an der Universität Cambridge lehrt, auf Twitter. «In Almaty wurden friedliche Proteste von organisierten kriminellen Gruppen geklaut.»

Anwohner berichteten von Schussgeräuschen und von randalierenden Mobs, die durch die Straßen zogen. Mehrere Waffengeschäfte wurden geplündert. Im Internet kursiert ein Video von Männern, die sich Gewehre aus dem Kofferraum eines Autos schnappen. «Ab dem 4. Januar spielten (...) im Vorfeld vorbereitete Sturmtruppen die Hauptrolle, die ohne irgendwelche Losungen auf gewaltvolle Konfrontation aus waren», schreibt der kasachische Politologe Danijar Aschimbajew.

Als Indiz für ein koordiniertes Vorgehen sehen Experten vor allem, dass offenbar zielgerichtet strategisch wichtige Punkte wie Polizeidienststellen und Verwaltungsgebäude angegriffen wurden. Diese schnelle Radikalisierung des Protests sei nicht nur durch spontan eskalierte Wut junger Männer auf den Straßen zu erklären, heißt es in einer Analyse des Moskauer Carnegie Centre. Auch die russische Tageszeitung «Kommersant» wundert sich über die Überforderung und Machtlosigkeit der kasachischen Behörden gegenüber den Randalierern.

«Dies ist der Versuch eines Staatsstreichs», sagt Präsident Kassym-Schomart Tokajew. Russlands Staatschef Wladimir Putin spricht auf einer Sitzung eines von Moskau geführten Militärbündnisses, das nun in Kasachstan im Einsatz ist, von «zerstörerischen Kräften von außen». Belege dafür fehlen bislang.

Schon vor längerer Zeit habe sich - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - ein Machtkampf zwischen Präsident Tokajew und seinem einstigen Ziehvater, dem 2019 zurückgetretenen Langzeit-Machthaber Nursultan Nasarbajew, entfacht, schreiben die Carnegie-Experten. Offenbar habe es Leute im Land gegeben, denen nicht gefiel, dass Tokajew mächtiger geworden sei, meint der Politologe Marat Schibutow. «Was auch immer es ist, es ist ein interner Kampf», schreibt die Politologin Nargis Kassenowa während der Unruhen auf Twitter.

Einen Protegé Nasarbajews, Ex-Geheimdienstchef Karim Massimow, ließ Tokajew festnehmen. Entlassen hat Tokajew zudem zahlreiche weitere Nasarbajew-Vertraute, die gesamte Regierung und Nasarbajew selbst - vom Posten als Chef des einflussreichen Sicherheitsrates. Den übernahm Tokajew. Erst Tage später meldete sich Nasarbajew, der bis zum Beginn der Proteste noch als mächtigster Mann im neuntgrößten Land der Erde und als Strippenzieher im Hintergrund galt, zu Wort. Er habe den Posten freiwillig geräumt, ließ der 81-Jährige ausrichten.

Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob es sich wirklich - wie Tokajew sagt - um einen Putschversuch handelte. Und wenn ja, wer ihn angezettelt hat. Klarer hingegen ist, dass der frühere Diplomat die Krise ganz offensichtlich für den Ausbau des eigenen Einflusses nutzt. «Das Wichtigste ist offensichtlich: Die Ära Nasarbajews ist in Kasachstan zuende», heißt es im Carnegie-Bericht.

Der Preis für Tokajews neue Machtfülle könnte groß sein: ein erhöhter russischer Einfluss etwa - und das ausgerechnet rund 30 Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. In den Wirrungen der ersten Protesttage hätten zudem Geschäftsleute aus Angst vor einem Umbruch scharenweise das öl- und gasreiche Land verlassen, schreibt der Experte Schibutow. «Jeder, der konnte, ist weggeflogen.» Für Tokajew geht es nun darum, möglichst viele Investoren im Land zu halten.

Für die Bevölkerung hingegen geht es nun um eine Aufarbeitung der Ereignisse - gerade für diejenigen, die friedlich für Verbesserungen in ihrem Land auf die Straßen gingen. «Die kasachische Regierung schuldet uns die Wahrheit, vollständig und ungekürzt», schreibt Politologin Kassenowa. «Die Leute sind nicht dumm, sie sind sauer.»

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