BERLIN: Egal, welche Partei die Bundestagswahl gewinnt - die Deutschen werden sich an ein neues Gesicht im Kanzleramt gewöhnen müssen. Denn Angela Merkel zieht sich aus der Politik zurück. Für ihre Christdemokraten sehen die Umfragen nicht so gut aus.
Das hätten sich bis vor kurzem wohl nur wenige in Deutschland vorstellen können: Nach 16 Jahren an der Regierung droht den Christdemokraten von Kanzlerin Angela Merkel der Machtverlust.
Vor der Bundestagswahl am 26. September haben sich die Umfragewerte für Merkels CDU und deren bayerische Schwesterpartei CSU, die im Sommer noch wie die sicheren Sieger aussahen, deutliche verschlechtert. Demnach deutet sich im Berliner Kanzleramt ein Machtwechsel an, auch wenn Wahlforscher den Ausgang der Wahl noch für offen halten.
Die Wahl am letzten Septembersonntag markiert eine Zeitenwende in Deutschland. Nach 16 Jahren endet die Ära Merkel. Europas dienstälteste Regierungschefin, die seit 1990 im Bundestag sitzt und seit November 2005 Kanzlerin ist, tritt nicht mehr an. Sobald ein Nachfolger vereidigt ist, will sich die 67-Jährige aus der aktiven Politik zurückziehen. Zum ersten Mal seit 1949 tritt bei dieser Bundestagswahl kein Amtsinhaber mit entsprechendem Amtsbonus an.
In Merkels große Schuhe treten will Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, seit Januar CDU-Vorsitzender und seit April gemeinsamer Kanzlerkandidat von CDU und CSU. Doch von 30 Prozent Mitte Juli ist die CDU/CSU in Umfragen auf etwa 20 Prozent abgestürzt und hat sich zuletzt nur ganz leicht erholt. Im Wahlkampf tat sich Laschet oft schwer.
In einem ungeahnten Höhenflug segeln dagegen die Sozialdemokraten, die Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz als Kandidaten aufgestellt haben. Nachdem es mit Deutschlands ältester Partei in den Jahren der «GroKo» (großen Koalition) unter Merkel stetig abwärts gegangen war, hat die SPD in den Umfragen seit Jahresmitte nun um rund zehn Prozentpunkte auf etwa 25 Prozent zugelegt. Scholz hätte also Chancen, seine bisherige Chefin abzulösen.
Unwahrscheinlich ist dagegen, dass das Kanzleramt in weiblicher Hand bleibt: Die Grünen, die im Frühjahr nach der Nominierung ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock zeitweilig in den Umfragen führten, rangieren derzeit mit 15 bis 17 Prozent nur auf Platz drei.
Gemäß ZDF-Politbarometer hätten 48 Prozent der Befragten gerne Scholz als Kanzler, nur 21 Prozent Laschet und nur 16 Prozent Baerbock. Die SPD-Anhänger stehen nahezu geschlossen hinter ihrem Spitzenmann, bei den Anhängern von CDU/CSU und Grünen fällt die Unterstützung für Laschet beziehungsweise Baerbock verhaltener aus.
Der Regierungschef wird in Deutschland nicht direkt gewählt, sondern von den Abgeordneten des neuen Bundestages. Die gut 60 Millionen Wahlberechtigten, von denen nicht wenige jetzt schon per Briefwahl abgestimmt haben, entscheiden nur über die Stärke der Parteien im Parlament. Allerdings spielt die Person des Spitzenkandidaten bei der Entscheidung oft eine markante Rolle. Und Merkel, die immer noch populärste Politikerin im Lande, steht den Christdemokraten nicht mehr als Zugpferd zur Verfügung.
«Das Wahlvolk will keine Extreme. In Krisensituationen wie jetzt drängt der Wähler in die Mitte, und da findet er die alte Ankerfrau nicht mehr vor», sagt der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf die Corona-Pandemie und das internationale Umfeld. Die Rolle des «Ankermanns» trauten viele Wähler jetzt Scholz zu, der ihnen immerhin gut bekannt sei. Scholz profitiere auch davon, dass der linke Flügel seiner Partei stillhalte und es keinerlei Diskussionen um seine Person gebe, während Laschet auch in der eigenen Partei nicht viel zugetraut werde.
Im künftigen Bundestag werden wahrscheinlich wieder sechs Fraktionen sitzen, neben CDU/CSU, SPD und Grünen sind das die Liberalen (FDP), die Linke und die rechtspopulistische AfD. Auf eine Mehrheit der Sitze werden wahrscheinlich am ehesten Dreierbündnisse kommen. Will Scholz also vom Finanzministerium ins Kanzleramt umziehen, bräuchte er auch als Wahlsieger zwei Koalitionspartner.
In der SPD liebäugelt zumindest der linke Flügel mit einem Bündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei (Rot-Grün-Rot), falls dies rechnerisch möglich wird. Es würde die deutsche Politik weit nach links verschieben mit Steuererhöhungen für Gutverdienende, einer neuen Vermögenssteuer und einer deutlichen Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns. Zum Stolperstein bei Koalitionsverhandlungen könnte die Verteidigungspolitik werden, weil die Linke raus aus der Nato will und Bundeswehreinsätze im Ausland ablehnt.
Eine rechnerisch gut mögliche Konstellation wäre eine «Ampel» (Rot-Gelb-Grün) aus SPD, Grünen und Liberalen. Allerdings sind die ideologischen Unterschiede zwischen SPD und Grünen einerseits und FDP andererseits groß. So lehnen die Liberalen jegliche Steuererhöhung ab. Eine denkbare Kombination wäre auch SPD mit CDU und FDP. Nicht völlig auszuschließen ist angesichts der Unsicherheit der Umfragen, dass am Ende auch Laschet ein regierungsfähiges Bündnis schmieden könnte, auch wenn die CDU/CSU nur zweitstärkste Kraft würde.
Merkel, die der Politik nun unbesiegt Lebewohl sagt, ist vorgeworfen worden, Laschet öffentlich nicht genug zu unterstützen. In der letzten Bundestagssitzung vor der Wahl warf sie sich aber mächtig für ihn in den Ring. «Der beste Weg für unser Land ist eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung mit Armin Laschet als Bundeskanzler», sagte sie in ihrer wohl letzten Rede im Parlament.
Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Oskar Niedermayer hängen die Probleme der Union aber nicht nur an der Person Laschet, sondern schlicht und einfach «an der inhaltlichen Entkernung der Partei». Viele Wähler wüssten nicht mehr, wofür die Union heute stehe, sagte er in einem Zeitungsinterview. Die CDU stehe an der Schwelle, ihren Status als Volkspartei für immer zu verlieren, sagte Niedermayer und verwies auf den Zusammenbruch anderer christdemokratischer Parteien in Europa nach Wahldesastern.
Olaf Scholz: Merkels Vize möchte selber Kanzler werden
BERLIN: Von den Umfragen ließ Olaf Scholz sich nicht beirren. Von allen Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl hat der deutsche Finanzminister die meiste Regierungserfahrung aufzuweisen - und hat nun den Negativtrend seiner Partei gewendet.
Die Sozialdemokraten hatten es dieses Mal eilig. Schon im August 2020, gut ein Jahr vor der Bundestagswahl, nominierten sie Olaf Scholz zu ihrem Kanzlerkandidaten. Der frühe Start sicherte zunächst nicht die besten Plätze: In den Meinungsumfragen lag die SPD lange Zeit abgeschlagen auf Rang drei der Wählergunst. Doch der derzeitige Vizekanzler - der von den drei Kanzlerkandidaten die höchsten persönlichen Zustimmungswerte genießt - schaffte es in den vergangenen Wochen laut Meinungsforschern, den Trend zu wenden.
In der scheidenden Regierung von Kanzlerin Angela Merkel ist Scholz seit 2018 Bundesfinanzminister und hat damit den wohl wichtigsten Kabinettsposten inne. Es ist vor allem seine große politische Erfahrung, mit der der 63-jährige einstige Hamburger Bürgermeister um Wählerstimmen wirbt.
Seine politische Laufbahn begann Scholz in Hamburg, wo der gebürtige Niedersachse aufwuchs und Jura studierte. 1998 schaffte es der Rechtsanwalt in den Bundestag. Zwei Jahre später wurde er erstmals Landeschef seiner Partei in der Hansestadt. Unter Gerhard Schröder, dem bisher letzten sozialdemokratischen Bundeskanzler, war Scholz von 2002 bis 2004 SPD-Generalsekretär. Dies war die Zeit, in der er sich den Spitznamen «Scholzomat» einhandelte - da er häufig Floskeln bemühte, anstatt sich konkret inhaltlich zu äußern.
Schröder verlor die Bundestagswahl 2005, doch die SPD blieb - nun als Juniorpartner von Merkels Christdemokraten - in der Regierung. Scholz war von 2007 bis 2009 Bundesarbeitsminister in der großen Koalition. Zwei Jahre später wurde er nach dem SPD-Sieg bei der Bürgerschaftswahl Erster Bürgermeister Hamburgs. Deutschlands zweitgrößte Stadt ist ein eigenes Bundesland.
Vier Jahre lang regierte Scholz mit absoluter Mehrheit, nach Stimmenverlusten bei der Wahl 2015 dann in einer Koalition mit den Grünen. Zu den Höhepunkten seiner Amtszeit zählte die Vollendung der Elbphilharmonie 2016, als seine «schwerste Stunde» bezeichnete er die Krawalle beim G20-Gipfel in Hamburg 2017. Ein Untersuchungsausschuss geht außerdem der Frage nach, ob der Bürgermeister im Zuge des Cum-Ex-Skandals um undurchsichtige Aktiengeschäfte Einfluss auf die steuerliche Behandlung der Warburg Bank nahm.
Von Hamburg ging es 2018 wieder nach Berlin, in die vierte und letzte Merkel-Regierung. In der Corona-Krise 2020 machte Finanzminister Scholz mit dem Ausspruch Furore, Europas größte Volkswirtschaft müsse nun «mit Wumms» aus der tiefsten Rezession der Nachkriegsgeschichte kommen. In seine Amtszeit fiel aber auch der milliardenschwere Zusammenbruch des Finanzdienstleisters Wirecard, bei dem die Scholz unterstellte Finanzaufsichtsbehörde Bafin keine gute Figur abgab.
Galt Scholz in seiner Zeit als stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD-Jugendorganisation Jungsozialisten (Jusos) in den achtziger Jahren als Vertreter des linken, kapitalismuskritischen Parteiflügels, so zählt er heute zu den gemäßigten Sozialdemokraten. 2019 kandidierte er erfolglos für den Parteivorsitz, das Rennen bei der Mitgliederbefragung machte das weiter links stehende Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Aber der neuen Parteiführung schien Scholz dann doch der geeignetere Kanzlerkandidat. In den Umfragen schnitt er besser ab als seine Partei insgesamt.
Für den Bundestag kandidiert Scholz nun in Potsdam, wo der langjährige Hamburger inzwischen lebt. Er tritt im selben Wahlkreis wie Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock an. Dem Bundesland Brandenburg, das die deutsche Hauptstadt umschließt, ist Scholz auch familiär verbunden: Seine aus Hamburg stammende Ehefrau Britta Ernst ist dort seit 2017 Bildungsministerin.
Armin Laschet: «Rheinische Frohnatur» will nach Berlin
BERLIN: Geht es nach den Umfragen, hat Armin Laschet nur mäßige Chancen, seiner Parteifreundin Angela Merkel ins Kanzleramt zu folgen. Schuld ist auch ein zum Teil holpriger Wahlkampf.
Einen erfolgreichen Wahlkampf hat Armin Laschet schon geführt. Bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2017 schaffte es der damalige christdemokratische Oppositionsführer, die Sozialdemokraten in ihrer Hochburg zu besiegen. Seither regiert Laschet mit einer christlich-liberalen Koalition Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland. Nun strebt der Rheinländer aus der Düsseldorfer Staatskanzlei ins Kanzleramt in Berlin.
Geboren wurde Laschet vor 60 Jahren im äußersten Westen der Republik, der alten Kaiserstadt Aachen, nur wenige Kilometer entfernt vom Dreiländereck zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Er wuchs in einem katholisch geprägten Elternhaus auf, machte sein Abitur an einem bischöflichem Gymnasium und arbeitete nach seinem Jurastudium zunächst als Journalist. Mehre Jahre war er Chefredakteur der «Kirchenzeitung für das Bistum Aachen». Über die kirchliche Jugendarbeit fand er früh den Weg zur Christdemokratie. Mit 28 zog er für die CDU in den Stadtrat von Aachen ein.
1994 schaffte es Laschet in den damals noch in Bonn tagenden Bundestag, aber nur für eine Wahlperiode. 1999 zog er für die CDU ins EU-Parlament. Nach einem CDU-Wahlsieg bei der NRW-Landtagswahl 2005 wurde er unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration. Wegen seiner liberalen Positionen in der Einwanderungsfrage bekam er den Spitznamen «Türken-Armin».
Nach nur fünf Jahren schickten die Wähler die CDU zurück in die Opposition. In den CDU-internen Machtkämpfen setzte sich Laschet 2012 im Ringen um den NRW-Landesvorsitz durch. Fünf Jahre später führte er seine Partei zurück an die Macht in Düsseldorf.
Als Kanzlerin Angela Merkel ihren Rückzug einläutete und Ende 2018 zunächst den Parteivorsitz abgab, wurde die frühere saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer neue CDU-Chefin. Als «AKK» Anfang 2020 nach einer politischen Krise in Thüringen, bei der sie keine gute Figur abgab, das Handtuch warf, bewarb sich Laschet. Bei einem Online-Parteitag im Januar setzte er sich in einer Stichwahl gegen den CDU-Wirtschaftspolitiker Friedrich Merz durch. Damit war der Weg zur Kanzlerkandidatur vorgezeichnet. Am Ende akzeptierte auch der Chef bayerischen Schwesterpartei CSU, Markus Söder, Laschet als gemeinsamen Spitzenkandidaten von CDU und CSU.
Nach den langen Jahren unter der ostdeutschen Protestantin Merkel kehrte mit Laschet - wie schon zu Zeiten der Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949-1963) und Helmut Kohl (1982-1998) - ein Vertreter des rheinischen Katholizismus an die Spitze der deutschen Christdemokraten zurück. Medien berichteten über Verbindungen in Laschets Umfeld zur erzkonservativen katholischen Vereinigung Opus Dei, doch steht Laschet eher für einen liberalen Katholizismus. Der «Markenkern» der CDU sei nicht das Konservative, sondern das christliche Menschenbild, sagte er einmal.
Ansonsten pflegt Laschet gerne das Bild einer «rheinischen Frohnatur», die den heimischen Karneval liebt und dem lokalen Fußballclub - dem Viertligisten Alemannia Aachen - die Daumen drückt. In einem TV-Gespräch offenbarte er sich als Fan von Fernsehserien und Gegner von Gendersternchen. Laschet ist verheiratet und hat drei Kinder, sein Sohn Johannes machte sich als Modeblogger einen Namen.
Im Wahlkampf versuchte Laschet, mit seiner Regierungserfahrung zu punkten. Allerdings gab er als Landesvater nach der Flutkatastrophe im Juli nicht immer ein gutes Bild ab, die Umfragewerte der CDU/CSU sanken seit Mitte Juli drastisch. Kritiker warfen ihm auch vor, als Spitzenkandidat zu wenig Position zu beziehen. Von schlechten Umfragewerten für die CDU/CSU hat sich Laschet nicht entmutigen lassen und in der Endphase des Wahlkampfes stärker auf Angriff geschaltet.
Annalena Baerbock - auf der «Frauenkarte» ins Kanzleramt?
BERLIN: Wird Deutschland auch künftig von einer Frau regiert? Die Grünen wollen es wissen und haben erstmals eine Kanzlerkandidatin aufgestellt. Co-Parteichefin Annalena Baerbock stünde für einen Generations- und auch einen Politikwechsel.
Als Jugendliche war Annalena Baerbock eine Leistungssportlerin, und ihre liebste Disziplin ist bis heute das Trampolinspringen. Nun setzt die Grünen-Co-Vorsitzende zum ganz großen Sprung an: Als Kanzlerkandidatin der Ökopartei kämpft sie um das höchste Regierungsamt in Deutschland.
Es ist das erste Mal in ihrer mehr als 40-jährigen Geschichte, dass die Grünen bei einer Bundestagswahl eine eigene Kanzlerkandidatur präsentieren. Im 2017 gewählten Bundestag stellen sie die kleinste Fraktion, doch in den Umfragen haben sie stark zugelegt seit Baerbock und Robert Habeck als telegenes Duo 2018 gemeinsam den Parteivorsitz übernahmen.
In der deutschen Politik stünde eine Kanzlerin Baerbock sowohl für einen linksökologischen Politik- als auch für einen Generationswechsel. Geboren wurde die Niedersächsin 1980, dem Gründungsjahr ihrer Partei. Sie ist damit 26 Jahre jünger als Amtsinhaberin Angela Merkel. Bei einem Wahlsieg wäre sie die mit Abstand jüngste Regierungschefin in der Geschichte des Landes.
Baerbock wuchs in einem Dorf südlich von Hannover in einer Art Hippiehaushalt auf und wurde schon als Kind oft zu Anti-Atomkraft- oder Friedensdemonstrationen mitgenommen. Nach dem Abitur studierte sie Politik- und Rechtswissenschaften in Hamburg und London. An der Freien Universität Berlin war sie von 2009 bis 2013 Doktorandin in Völkerrecht, brachte es aber nicht zur Promotion.
Seit etlichen Jahren lebt die Mutter von zwei Töchtern im ostdeutschen Bundesland Brandenburg. Dort war sie von 2009 bis 2013 Grünen-Landesvorsitzende, und in Potsdam wurde sie 2013 auch in den Bundestag gewählt. Regierungserfahrung hat sie bisher nicht.
Im Rennen um die Kanzlerkandidatur setzte sie sich im Frühjahr gegen Habeck durch, der andeutete, dass neben ihren Qualitäten auch die «Frauenkarte» eine Rolle gespielt haben dürfte. Nach Baerbocks Präsentation am 19. April erlebten die Grünen einen Höhenflug und waren in den Umfragen kurzzeitig stärkste Partei in Deutschland. Doch die Euphorie war kurz, bald bröckelten die Werte wieder.
So machte Baerbock Negativschlagzeilen, weil sie dem Bundestag Sonderzahlungen ihrer Partei an sie verspätet meldete. Dann wurden Unstimmigkeiten im offiziellen Lebenslauf entdeckt - etwa zu ihren akademischen Abschlüssen, Mitgliedschaften in Vereinen und Organisationen oder einer angeblichen Tätigkeit in Brüssel -, die die Kandidatin nachträglich korrigieren musste. Bald darauf kam heraus, dass in Baerbocks Buch «Jetzt. Wie wir unser Land erneuern» etliche Textstellen aus anderen Werken abgeschrieben waren, ohne dass dies kenntlich gemacht wurde.
Die Kandidatin zeigte auch Wissenslücken in der deutschen Geschichte, als sie die Sozialdemokraten zu den Erfindern der in Deutschland hochgeschätzten «sozialen Marktwirtschaft» machte (es waren die Christdemokraten), und in ihrer Wahlheimat Brandenburg ordnete sie Orte und Landschaften geografisch falsch zu. In den Umfragen fielen die Grünen auf deutlich unter 20 Prozent. Manche den Grünen nahestehende Intellektuelle forderten einen Austausch Baerbocks durch Habeck. Habeck bezeichnete solche Forderungen als «Kokolores».
Politisch steht Baerbock unter anderem für einen schnelleren Ausstieg aus der Kohleverstromung, einen verstärkten Ausbau der erneuerbaren Energien und eine «aktive Einwanderungspolitik». Mit der Übernahme des Parteivorsitzes habe sie auch beweisen wollen, dass «Mädchen heute alles werden können», heißt es in ihrer offiziellen Biografie. Darin kommt sie auch auf ihre Zeit auf dem Turniertrampolin zurück. «Was ich durch den Sport verinnerlicht habe, ist der Mut, sich immer wieder zu überwinden, Neues zu wagen», schreibt sie.
Z. Z. Muss der Bundestag mindestens 598 Mitglieder haben. D. h., für eine Fraktion wären 30 Mitglieder erforderlich.
Wegen der Überhangs- und Ausgleichsmansate hat der derzeitige Bundestag aber 709 Abgeordnete. Da waren 36 für eine Fraktion erforderlich.
Wenn die CSU wieder alle 46 Direktmandate gewinnen sollte, könnte sie theoretisch eine eigene Fraktion bilden. 30 Mandate (= 5 % von 598 Abgeordneten) wird sie sicherlich bekommen. Aber ich denke, es wird wieder auf eine gemeinsame Fraktion mit den CDU-Abgeordneten hinaus laufen.