Wie ein Kriegsgebiet: Corona-Krawalle schockieren Niederlande

Proteste gegen Absperrungen auf dem Museumplein in Amsterdam. Foto: epa/Robin Van Lonkhuijsen
Proteste gegen Absperrungen auf dem Museumplein in Amsterdam. Foto: epa/Robin Van Lonkhuijsen

ROTTERDAM: Geplünderte Läden, ausgebrannte Autos, Straßen voller Steine und Glas: Städte sehen aus wie Kriegsgebiete. Die Wut ist groß nach der zweiten Corona-Krawallnacht in den Niederlanden. Ist die Gewalt zu stoppen?

Die Niederlande sind fassungslos und wütend: Sonst so bilderbuchartige historische Stadtzentren sind nach der zweiten Krawallnacht in Folge verwüstet. «Wie im Krieg», sagt eine junge Frau am Dienstagmorgen im Zentrum von 's Hertogenbosch. Die Karnevalshochburg etwa 100 Kilometer südlich von Amsterdam wurde am späten Montagabend von den Corona-Krawallen besonders schlimm getroffen. In mehr als zehn Städten waren Unruhen ausgebrochen - darunter auch Amsterdam, Den Haag, Haarlem, Geleen und Rotterdam.

Am Morgen danach ziehen Polizei und Bürgermeister eine bittere Bilanz: 184 Festnahmen, zehn verletzte Polizisten in Rotterdam, die Schäden gehen in die Millionen.

Videos von Augenzeugen und TV-Aufnahmen zeigen Szenen der Gewalt. Kurz vor Beginn der Ausgangssperre um 21 Uhr brachen die Unruhen aus. Dutzende von Jugendlichen zogen plündernd und randalierend durch die Straßen, schlugen Schaufensterscheiben ein, warfen Autos um, demolierten Bushaltestellen, legten Feuer und griffen Polizisten mit Steinen und Feuerwerkskörpern an.

Das Land ist entsetzt und hat vor alle viele Fragen: Was steckt hinter dem unglaublichen Gewaltausbruch? Und - so fragen sich Bürgermeister, Polizei und Politiker: Wie kriegen wir den Geist zurück in die Flasche?

Es war der dritte Abend mit einer Ausgangssperre - die bisher schwerste Corona-Maßnahme wurde am Samstag erstmals verhängt. Am Sonntag wurde in Amsterdam und Eindhoven dagegen demonstriert. Das artete in Gewalt aus, als die Polizei die Aktionen gewaltsam auflöste.

Die Ausgangssperre wirkte offensichtlich wie eine Lunte am Pulverfass. Schon die Corona-Proteste in Amsterdam und Eindhoven am Sonntag seien überrannt worden, sagt der Vorsitzende des Rates für Sicherheit der Regionen, Hubert Bruls: «Das, was wir jetzt sehen, hat überhaupt nichts mehr mit der Sperrstunde zu tun. Diese Leute haben bewusst nur darauf gewartet zu randalieren.»

Der Bürgermeister von Rotterdam, Ahmed Aboutaleb, konstatiert: «Das sind schamlose Diebe». Die Hafenstadt war besonders schwer von Plünderungen und Gewalt betroffen. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein, sogar ein Warnschuss wurde abgegeben, wie die Polizei mitteilte.

Der Bürgermeister von 's Hertogenbosch, Jack Mikkers, macht aus seiner Wut keinen Hehl: «Krawallmacher, Diebe, Kriminelle», sagt er am Dienstag. Etwa 80 Täter hätten die Stadt verwüstet. Einige hatten sogar versucht, das Hieronymus-Bosch-Krankenhaus anzugreifen, wie die Klinik berichtete. Krankenwagen hätten ausweichen müssen. «Das war beängstigend für die Mitarbeiter», sagt Krankenhausdirektor Piet-Hein Buiting.

«Das war echt total gestört», schildert eine junge Frau im Radio. Sie wohnt im Zentrum der Stadt. «Das waren vor allem Jungens. Kapuze auf, Maske oder Schal vor dem Gesicht, das waren keine Frauen, keine Älteren, nur Jungens.»

Die Beschreibung deckt sich mit Beobachtungen aus fast allen Orten. Es geht vor allem um Jugendliche. Der bisher jüngste Randalierer, der festgenommen wurde, war 14 Jahre alt.

Um was für Gruppen es genau geht, ist unklar, sagt der Kriminologe Henk Ferwerda im TV-Nachrichtenmagazin Nieuwsuur. «Das sind Virusleugner, solche mit politischer Agenda und solche, die einfach draufhauen wollen.» Wut gegen die Regierung, Langeweile, Aussichtslosigkeit, Lust an Randale - das ist ein giftiger Cocktail.

Das Ausmaß der Gewalt ist für die Niederlande ungewohnt. Es sind nach Angaben der Polizei die schlimmsten Unruhen seit 40 Jahren - nach den Unruhen der Hausbesetzer in den 1980er Jahren. Doch untypisch sind die Krawalle nicht, sagt die Terrorismus-Expertin Beatrice de Graaf. «Es gab auch in den 1990er Jahren Jugendunruhen.» Und zuletzt hatte es noch gewalttätige Proteste von Bauern und Corona-Leugnern gegeben.

Neu ist nach Einschätzung der Professorin, dass die Unruhen vor allem von der rechtsradikalen Seite kommen. Und neu sei auch die Rolle der sozialen Medien. «Man sieht, wie Jugendliche sich gegenseitig aufrufen über Snapchat und Telegram, und sie streamen die Plünderungen live. Sie geben einander sogar Punkte - wie ein Computerspiel.»

Über die sozialen Medien konnten sich Gruppen überall im Land rasend schnell verabreden. Die Unruhen breiteten sich aus wie ein Ölfleck. Und inzwischen wird Kritik von Politikern laut an der Reaktion der Rechtspopulisten Geert Wilders und Thierry Baudet. Sie würden die Unruhen im derzeitigen Wahlkampf für die Parlamentswahl Mitte März nutzen, um Stimmung gegen die Regierung zu machen.

Die Polizei setzt alles daran, der Gewalt Einhalt zu bieten. Justizminister Ferd Grapperhaus versprach, dass schnell und hart durchgegriffen werde. Gewalttäter sollten mit Schnellrecht und «wenn es geht, mit Haftstrafen ohne Bewährung» gestraft werden.

Eines macht die Regierung deutlich. Die Sperrstunde bleibt. «Wir werden nicht vor ein paar Idioten kapitulieren», sagte Finanzminister Wopke Hoekstra dem TV-Sender NOS.

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