Nawalny: Ein noch gefährlicher Gegner für Putin

Nach 32 Tagen aus Charité entlassen

Dieses Foto, das der russische Oppositionsführer am Mittwoch, 23. September 2020 auf seinem Instagram-Account veröffentlicht hat, zeigt Alexej Nawalny auf einer Parkbank sitzen. Nach 32-tägiger Behandlung... Foto: Uncredited/Navalny/instagram/dpa
Dieses Foto, das der russische Oppositionsführer am Mittwoch, 23. September 2020 auf seinem Instagram-Account veröffentlicht hat, zeigt Alexej Nawalny auf einer Parkbank sitzen. Nach 32-tägiger Behandlung... Foto: Uncredited/Navalny/instagram/dpa

BERLIN: «Dieser Tag ist nun gekommen - Hurra!»: Die Freude bei Kremlkritiker Alexej Nawalny ist groß. Nach mehr als einem Monat darf er die Berliner Charité verlassen. Ihm steht noch eine lange Behandlung bevor.

Nach 32-tägiger Behandlung ist der vergiftete russische Kremlkritiker Alexej Nawalny aus der Berliner Charité entlassen worden. Das teilte die Universitätsklinik am Mittwochmorgen mit. Der Patient sei seit Dienstag nicht mehr in stationärer Behandlung. Der Gesundheitszustand Nawalnys habe sich «soweit gebessert, dass die akutmedizinische Behandlung beendet werden konnte». Nach Angaben seiner Sprecherin befindet er sich weiterhin in Deutschland. «Seine Behandlung ist noch nicht abgeschlossen», sagte Kira Jarmysch in einem kurzen Video auf Twitter. Nawalny ist seit Jahren einer der schärften Kritiker von Kremlchef Wladimir Putin.

Der 44-Jährige will nun nach eigenen Angaben mit Hilfe von Spezialisten wieder zu Kräften kommen. «Ich will auf einem Bein stehen. Die Kontrolle über die Finger zurückerlangen. Gleichgewicht halten», schrieb Nawalny auf Instagram. Er wolle jeden Tag mit Physiotherapeuten trainieren und möglicherweise in ein Reha-Zentrum gehen. Ob er bald in seine Heimat Russland zurückkehren oder zunächst in Deutschland bleiben werde, teilte er nicht mit. Er freue sich aber sehr, dass er die Klinik endlich verlassen dürfe. «Dieser Tag ist nun gekommen - Hurra!», schrieb er.

Nawalny war im August auf einem Inlandsflug in Russland zusammengebrochen. Kurz darauf wurde er auf Drängen seiner Familie nach Deutschland ausgeflogen. Wochenlang lag er in einem künstlichen Koma. Nach Angaben von Speziallaboren wurde er mit einem international verbotenen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet. Russland weist bisher alle Vorwürfe zurück, in den Fall verwickelt zu sein.

Wo sich Nawalny aktuell genau aufhält, teilte die Charité nicht mit. «Die öffentliche Mitteilung zum Gesundheitszustand von Herrn Nawalny erfolgt im Einvernehmen mit ihm und seiner Ehefrau», hieß es nur. Nawalnys Team betonte jedoch zuletzt, dass der Kremlkritiker natürlich in seine Heimat zurückkehren werde. Dort deckt er mit seinem Mitstreitern immer wieder Korruptionsfälle in der russischen Machtelite auf und hatte sich so auch zahlreiche mächtige Feinde gemacht.

Die Bundesregierung äußerte sich «sehr erleichtert» über die Verbesserung von Nawalnys Gesundheitszustands. «Das ist sehr ermutigend, wir wünschen ihm weiterhin eine vollständige Genesung», sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Zum Aufenthaltsort Nawalnys oder zu seinen weiteren Plänen wollte Seibert sich nicht äußern. «Dafür bin ich nicht zuständig.»

Nawalny schrieb, dass er sich selbst nicht mehr erkannt habe, als er nach wochenlangem Koma zum ersten Mal in den Spiegel blickte. Jetzt müsse er sein Leben wieder normalisieren, schrieb er weiter. «Das Gehirn will einige Bewegungen einfach nicht machen.» Es gelinge ihm noch nicht, einen Ball zu werfen oder mit der Hand zu schreiben. Er werde aber wieder regelmäßig in den sozialen Medien aktiv sein, hieß es. Er dankte abermals den deutschen Ärzten für ihre Bemühungen. «Sie haben unglaubliche Arbeit geleistet.»

Die behandelnden Ärzte in Berlin zeigten sich optimistisch, dass Nawalny sich weiter gut erholen könnte. Sie halten «auf Grund des bisherigen Verlaufs und des aktuellen Zustandes des Patienten eine vollständige Genesung für möglich», erklärte die Klinik. «Eventuelle Langzeitfolgen der schweren Vergiftung können aber erst im weiteren Verlauf beurteilt werden.» Nawalny hatte nach Klinikangaben 24 Tage auf einer Intensivstation gelegen.

Als sich Nawalnys Zustand in den vergangenen Wochen besserte, veröffentlichte er gemeinsam mit seiner Familie immer wieder Blogbeiträge. Seinen Weg der Genesung hatte er mit mehreren Instagram-Fotos dokumentiert - zunächst aus dem Krankenbett, dann vom Balkon der Charité und zuletzt aus einem Park.

Die Untersuchungen in dem Fall führen zu erheblichen Streitigkeiten zwischen Berlin und Moskau. Deutschland fordert Russland zur Aufklärung des Verbrechens auf. Russland verlangt bisher erfolglos die Herausgabe der Laborbefunde. Zuletzt gab es Berichte, dass Putin in einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron behauptet habe, Nawalny habe sich möglicherweise selbst vergiftet. Das wies der Kremlkritiker als absolut lächerlich zurück. Russlands Botschafter in Deutschland warnte im dem Fall vor Schuldzuweisungen gegen sein Land. Es sei künstlich eine «antirussische Hysterie» entfacht worden, sagte Sergej Netschajew der «Berliner Zeitung» (Mittwoch).

Nawalny dankte bereits in einer am Samstag veröffentlichten Nachricht den «brillanten Ärzten» der Klinik. Noch vor kurzem aber habe er nicht einmal Menschen erkannt und nicht begriffen, wie das Reden funktioniere. «Das hat mich zur Verzweiflung getrieben, weil ich ja im Grunde schon verstanden habe, was der Doktor will, aber ich wusste nicht, woher ich die Worte nehmen soll.» Nawalny wies dabei auch darauf hin, dass es noch viele Probleme zu lösen gebe. Das Telefon fühle sich in der Hand an wie ein Stein. «Und sich selbst Wasser einzuschenken, ist eine richtige Attraktion.»


Nawalny: Ein noch gefährlicher Gegner für Putin
Ulf Mauder (dpa)

MOSKAU: Einen Monat nach dem Giftanschlag ist Russlands bekanntester Kremlgegner Nawalny raus aus der Charité. Der 44-Jährige macht Fortschritte. Und nach seiner Rückkehr in Russland könnte er für Kremlchef Putin so gefährlich werden wie nie zuvor.

Noch machen Kopf und Hände nicht immer das, was Russlands prominentester Oppositionspolitiker Alexej Nawalny gern hätte. Aber einen Monat nach dem international verurteilten Giftanschlag auf ihn, macht der 44-Jährige nun schon solche Fortschritte, dass er sich täglich zu Wort meldet. Zuerst zeigt er sichtlich geschwächt im Krankenbett mit seiner Familie, dann dankt er auf eine Treppe stehend den «brillanten Ärzten» der Charité, die ihn ins Leben zurückgebracht hätten. Und nun sitzt er schon auf einer Parkbank und auf dem Weg in die Rehabilitation. Geplant sind volle Genesung und dann die Rückkehr nach Russland - und der frische politische Kampf gegen das System von Kremlchef Wladimir Putin.

Der Giftanschlag habe Nawalny einen «neuen Status» als Politiker verschafft, meint die russische Politologin Tatjana Stanowaja. Sie rechnet damit, dass die Führung in Moskau noch härter gegen die Opposition kämpfen werde - mit Strafverfahren, Propaganda-Kampagnen und Einschüchterung. Alles was Nawalny künftig tue, werde auch innenpolitische Folgen haben - etwa für die Kaderpolitik, sagt sie. Der Anti-Korruptions-Kämpfer und sein Team, die immer wieder Schmiergeldskandale in den Machtstrukturen aufdecken, sei für den Kreml innerhalb Russlands viel gefährlicher als im Ausland.

Nawalnys Team hat stets deutlich gemacht, dass Nawalny natürlich nach Moskau zurückkehren werde. Angebote eines Asyls im Westen gibt es zwar genug. Aber der Politiker ist bekannt für seine kämpferische Haltung. Er hat sich auch nach früheren Anschlägen oder strafrechtlicher Verfolgung durch die Behörden nie kleinkriegen lassen. Noch ist er nach Angaben seiner Sprecherin in Deutschland. Doch obwohl es zwischen Deutschland und Russland noch immer keinen regulären Flugverkehr wegen der Corona-Pandemie gibt, werden immer wieder Sonderflüge organisiert. Einer raschen Rückkehr steht demnach nichts im Wege.

Für die russische Führung ist der Fall längst Ärgernis Nummer eins auf internationaler Bühne. Das russische Außenministerium in Moskau weist auch am Mittwoch wieder zurück, dass Nawalny mit dem als Kampfstoff laut Chemiewaffenverbot geächteten Nervengift getötet werden sollte. Drei westliche Labore, darunter eins der Bundeswehr, haben den Kampfstoff nachgewiesen. Doch Russland beißt sich mit seinen Forderungen nach Vorlage von Beweisen an den deutschen Behörden die Zähne aus. Deshalb, so der russische Botschafter Sergej Netschajew in der «Berliner Zeitung», gebe es auch in Russland keine Ermittlungen. Er fordert Deutschland zu einer Zusammenarbeit in dem Fall auf.

Das Team von Nawalny dagegen hat seit Wochen keine Zweifel daran, dass der Kreml selbst die Verantwortung für den Anschlag trage. Schon deshalb habe Russland kein Interesse an einer Aufklärung des Verbrechens, heißt es. Kremlsprecher Dmitri Peskow dreht den Spieß sogar um und wirft den Mitarbeitern des «Patienten», wie er Nawalny nur nennt, vor, selbst alle möglichen Spuren beseitigt zu haben. Die Kremlpropaganda dreht schon seit Wochen den Kriminalfall so hin, dass deutsche oder westliche Geheimdienstler womöglich selbst Nawalny vergiftet hätten. Und das Motiv gibt es noch dazu: Es gehe dem Westen am Ende immer nur darum, das Riesenreich etwa mit Sanktionen zu belegen und so weiter zu schwächen.

Es sind altbekannte Reflexe, die stets auftauchen, wenn Kremlgegner Anschlägen zum Opfer fallen. Und Putins Sprecher wird nie müde zu behaupten, dass die Fälle Putin gar nicht nützten und der Kreml nur Nachteile habe. Seine Macht jedenfalls hat Putin nach dem Tod vieler seiner Gegner, darunter etwa der Oppositionsführer und frühere Vize-Regierungschef Boris Nemzow, stets ausbauen können - auch, weil es kaum noch jemanden gibt, der es mit ihm aufnimmt.

Die Politologin Stanowaja meint nun auch in einem Eintrag bei Telegram, dass sich der Kreml inzwischen eigentlich selbst überführt habe - nicht nur wegen ständig neuer Versionen, die traditionell Zweifel streuen sollten in den Köpfen der Menschen. Sie kommentiert wie viele in diesen Tagen einen Artikel der französischen Zeitung «Le Monde» über ein Telefonat Putins mit seinem Pariser Kollegen Emmanuel Macron. Putin soll dort gesagt haben, dass Nawalny sich wohl selbst vergiftet habe, um seine Stellung in der Politik aufzuwerten.

Unklar ist, ob die Gesprächsnotizen so stimmen. Aber dem Ex-Geheimdienstchef Putin werden solche Äußerungen seit langem zugetraut. Nach einer Analyse Stanowajas hat Putin damit nicht nur den Fakt der Vergiftung selbst anerkannt. Mit der im Artikel überlieferten Bemerkung des früheren sowjetischen KGB-Offiziers, dass das Nervengift Nowitschok aus kommunistischen Zeiten doch im Grunde heute jeder haben könne, habe Putin zudem den Namen des Kampfstoffs bestätigt.

«Putin weiß, wer ihn vergiftet hat», meint Stanowaja nicht zuletzt mit Blick auf Peskows Äußerungen, dass Putin sich nicht über den Fall informieren lasse. Putin brauche keine Informationen, weil er alle habe, liest Stanowaja in den Worten. Und auch Nawalny meldet sich mit seinem typisch bissigen Humor mit Blick auf den Artikel zu Wort. Ganz klar, habe er das Gift selbst gebraut in der Küche, weil er sich selbst habe umbringen wollen, um Russland zu schaden. Aber diese Provokation sei nun einmal gescheitert. Nawalny lebt und will bald den Kampf gegen Putin in Moskau wieder aufnehmen.


Russland will innerhalb von zehn Tagen Antworten im Fall Nawalny

MOSKAU: Russland hat Deutschland aufgefordert, innerhalb von zehn Tagen Antworten zu den Beweismaterialien und Informationen im Fall des vergifteten Kremlkritikers Alexej Nawalny zu geben. Die russische Vertretung bei der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) habe bei den deutschen Kollegen eine entsprechende Note eingereicht, meldete die russische Staatsagentur Ria Nowosti am Donnerstag. Demnach soll Berlin vor allem die Ergebnisse der Analysen, Biomaterialien und andere klinische Proben offenlegen. Nach den Regeln der OPCW habe die deutsche Seite zehn Tage Zeit, um darauf zu antworten, hieß es.

Die Bundesregierung sieht es nach Untersuchungen in einem Spezial-Labor als zweifelsfrei erwiesen an, dass der 44-Jährige mit dem Kampfstoff Nowitschok vergiftet wurde. Moskau bestreitet, etwas mit dem Fall zu tun zu haben und behauptet, dass Berlin nicht mit den russischen Ermitteln zusammenarbeite. Der Fall belastet die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau inzwischen erheblich.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte Anfang September gesagt, dass die russische Regierung jetzt sehr schwerwiegende Fragen beantworten müsse. Berlin schaltete auch die OPCW ein, da die Vergiftung nach Sicht der Bundesregierung kein Fall zwischen Deutschland und Russland sei, sondern ein Verstoß gegen das Chemiewaffenabkommen. Für dessen Kontrolle ist die OPCW zuständig.

Die russische OPCW-Vertretung betonte, dass man je nach Lage über weitere Schritte in dem Fall entscheiden werde. Dabei wolle Moskau sich an die Regeln der Organisation halten.

Der CDU-Außenpolitikers Roderich Kiesewetter hatte Mitte September gesagt, dass die deutschen Analysen aus Sicherheitsgründen nicht komplett veröffentlicht werden sollten. Die Bundesrepublik dürfe die Daten nicht offenlegen, weil die russischen Geheimdienste genau darauf warteten. Sie könnten dann ableiten, mit welchen Analysemethoden gearbeitet wurde.


Gerichtsvollzieher beschlagnahmen Nawalnys Wohnung in Moskau

MOSKAU: Gerichtsvollzieher haben in Moskau die Wohnung des vergifteten russischen Kremlgegners Alexej Nawalny beschlagnahmt. Das sei ein weiteres Negativbeispiel für das Vorgehen der russischen Justiz, die sich zu dem Schritt entschlossen habe, als der 44-Jährige in Deutschland im Koma gelegen habe, sagte seine Sprecherin Kira Jarmysch in einem am Donnerstag veröffentlichten Videoclip. Ein Gericht hatte Nawalnys Fonds zur Bekämpfung von Korruption (FBK) mit einer Strafe von 88 Millionen Rubel (rund eine Million Euro) belegt, nachdem die Juristin Ljubow Sobol einen Skandal bei der Abwicklung eines Staatsauftrags für die Schulspeisung aufgedeckt hatte.

Nawalnys Anteil liege bei rund 30 Millionen Rubel, hieß es, weshalb es die Gerichtsvollzieher jetzt auf Nawalnys Eigentum abgesehen haben. Nach seiner Rückkehr kann Nawalny in der Wohnung zwar wohnen. Aber er kann sie zum Beispiel nicht mehr verkaufen, wie Jarmysch erklärte. Die Wohung liegt im bevölkerungsreichsten Moskauer Stadtviertel Maryino.

Der FBK nimmt seit langem Machenschaften des Milliardärs Jewgeni Prigoschin ins Visier, der einst Koch bei Kremlchef Wladimir Putin war und nun immer wieder lukrative Aufträge etwa in der Schulspeisung bekommt. Nawalnys Team wirft Prigoschin nicht nur Korruption vor, sondern hinterfragte auch die Qualität des Essens, nachdem bei Kindern massive Gesundheitsprobleme aufgetreten waren. Prigoschin klagte und gewann das Verfahren in den in Russland als käuflich verschrienen Gerichten.

Nawalnys Sprecherin sagte, dass sich auch im Fall der umstrittenen Schulspeisung die Justiz nicht um die Gesundheit der Kinder kümmere, sondern lediglich um Prigoschin. Der Unternehmer, der immer wieder ins Visier von Nawalny gerät, gilt aus Sicht des Teams als ein möglicher Hintermann des Giftanschlags auf Nawalny. Der Unternehmer hatte die medizinische Behandlung seines Kritikers in der Berliner Charité bezahlen wollen, allerdings wurde das Geld zurücküberwiesen.

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