Atmosphäre im Iran «wie Feuer unter der Asche»

​Nach den Protesten

Eine Frau spaziert über den Enghelab-Platz (Revolutionsplatz) im Zentrum von Teheran. Foto: epa/Abedin Taherkenareh
Eine Frau spaziert über den Enghelab-Platz (Revolutionsplatz) im Zentrum von Teheran. Foto: epa/Abedin Taherkenareh

TEHERAN/BERLIN: Die jüngsten Demonstrationen haben die Islamische Republik in die schwerste Krise seit ihrer Gründung gestürzt. Während Systemanhänger die Proteste für beendet erklären, ist Irans Gesellschaft tief gespalten. Wie konnte es soweit kommen?

Selten äußern iranische Spitzenpolitiker Zweifel am Regierungskurs. Umso überraschender sind die deutlichen Worte bekannter Reformpolitiker, die fünf Monate nach dem Beginn der jüngsten Proteste langsam für eine Kursänderung werben. «Eines der Probleme der Ereignisse in den vergangenen Monaten war das Entstehen einer tiefen gesellschaftlichen Spaltung», räumte zum Beispiel Irans früherer Präsident Hassan Ruhani ein. In den Städten schaffen viele Frauen einfach Fakten und tragen inzwischen kein Kopftuch mehr - trotz bestehender Vorschriften und womöglich drohender Strafen.

Die politischen Gräben im Iran bestehen seit Jahrzehnten. Straßenproteste, brennende Kopftücher und eine junge Generation, die sich gegen die Islamische Republik stemmt: All dies erinnert die Künstlerin Akram Abooee auch an ihren eigenen Kampf für mehr Gleichberechtigung. «Ich wünschte, wir hätten diesen Mut gehabt wie die Frauen heute, das Kopftuch abzulegen», sagt Abooee. Die 59-jährige Malerin, Witwe des berühmten iranischen Schriftstellers Abbas Maroufi, lebt seit den Neunzigerjahren in Deutschland.

Millionen Iranerinnen und Iraner leben heute im Ausland, viele können wegen drohender Repressionen nicht in ihre Heimat zurückkehren. Die Proteste wecken auch Erinnerungen an die Zeit des politischen Umbruchs nach der Islamischen Revolution von 1979. «Es gab viele Frauen, die gegen den Kopftuchzwang waren, aber da in der Verfassung nun Politik und Religion verbunden waren, konnten wir nichts machen. Es wurde protestiert, aber der Staat war mächtiger», sagt Abooee.

Die Revolution markierte den Beginn eines neuen iranischen Zeitalters. Revolutionäre verschiedener Lager brachten die Monarchie zum Sturz, doch eine Gruppe setzte sich schließlich durch: Mit der Rückkehr des charismatischen Religionsführers Ajatollah Ruhollah Chomeini aus dem Pariser Exil wurde der Staat schrittweise in das heutige islamische Regierungssystem verwandelt.

Nur ein Jahr später stürzte die Region ins Chaos. Nach einer irakischen Invasion folgte ein bitteres Jahrzehnt voller Krieg, das den Iran zusammenschweißte, aber jegliche Opposition unterdrückte. Zahlreiche Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller wurden inhaftiert und auch hingerichtet. «Als Kinder der Revolution haben wir nur Schmerz, Leid und Gewalt erlebt», sagt Abooee.

In Teheran erklärte der erzkonservative Präsident Ebrahim Raisi die jüngsten Proteste inzwischen für gescheitert. Übermalte Slogans an den Häuserwänden in der Hauptstadt erinnern an die Demonstrationen, sonst ist vor allem Alltag eingekehrt - allerdings für viele Frauen nun ohne das vorgeschriebene Kopftuch. Dass die Demonstrationen gescheitert sind, bezweifeln viele. Die Atmosphäre sei «wie Feuer unter der Asche», es brodle weiter, heißt es im Iran oft.

Die Malerin Abooee hat die jüngsten Proteste, ausgelöst vom Tod der jungen iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini, die wegen eines schlecht sitzenden Kopftuchs festgenommen worden war, aufmerksam verfolgt. «Die Jugend im Iran glaubt nicht an Religion oder Tradition und sie wollen es nicht. Frauen haben die Proteste angeführt, bis sich schließlich Männer an ihre Seite gestellt haben.»

Die anhaltende Wirtschaftskrise im Iran und der damit einhergehende Mangel an Zukunftsaussichten ist dabei vor allem für die junge Generation eine große Belastung. In Teheran blicken Intellektuelle auch mit Sorge auf die zunehmende gesellschaftliche Spaltung.

«Die Jugend von heute ist mit der Philosophie der Revolution nicht vertraut», sagt der Reformpolitiker Abbas Abdi. «Das politische System bombardiert sie mit Propaganda, anstatt sie mit den Konzepten von damals vertraut zu machen.» Abdi ist heute 66 Jahre alt, als junger Mann war er Teil der linken Bewegung. Nach der Revolution war er an der Besetzung der US-Botschaft beteiligt, die den Beginn der Feindschaft zwischen den USA und der Islamischen Republik einläutete.

Der Intellektuelle, der für seine kritischen Äußerungen bereits im Gefängnis saß, beklagt fehlende Visionen derjenigen, die das System von innen verändern wollen. Reformen sollten tiefgreifender sein. «Sie müssen näher an der Veränderung des Systems liegen», sagt Abdi. «Der Hidschab war von Anfang an politisch und ist es bis heute geblieben, selbst die Linken hatten nichts dagegen, aber in der aktuellen Situation ist das anders», meint der frühere Revolutionär.

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