Millionen Stasi-Akten und das Ende einer deutschen Behörde

Eine Außenansicht des Stasi-Museums während einer Veranstaltung zum 30-jährigen Bestehen der Stasi-Unterlagen-Sicherung in Berlin. Foto: epa/Hayoung Jeon
Eine Außenansicht des Stasi-Museums während einer Veranstaltung zum 30-jährigen Bestehen der Stasi-Unterlagen-Sicherung in Berlin. Foto: epa/Hayoung Jeon

BERLIN: Sie galt als Errungenschaft der friedlichen Revolution. Nun wird die deutsche Bundesbehörde für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit aufgelöst. Doch ein Schlussstrich soll das keinesfalls sein.

Wie brutal die DDR-Staatssicherheit in ihr Leben eingriff, sahen die ersten Ostdeutschen im Januar 1992 schwarz auf weiß. In der neu gegründeten Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen konnten Bürgerrechtler wie Bärbel Bohley in Akten lesen, die die Stasi rechtswidrig über sie angelegt hatte.

Die neue Behörde mit dem riesigen Archiv geretteter Stasi-Unterlagen wurde zur Institution bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Bis heute wurden allein knapp 3,5 Millionen Anträge von Menschen gestellt, die persönlich einen Blick in Papiere werfen wollten, die die Stasi heimlich anlegte.

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR, kurz Stasi, bespitzelte die eigenen Bürger und sammelte auch Informationen im Ausland. Kontrolliert wurde es von der herrschenden Sozialistischen Einheitspartei (SED). Das Ministerium wurde 1950 gegründet und im März 1990 endgültig aufgelöst.

Der Einblick in die DDR-Vergangenheit soll bleiben. Gleichzeitig geht nach fast 30 Jahren eine Ära zu Ende. Die Bundesbehörde wird aufgelöst, ihr Leiter Roland Jahn am 17. Juni nach rund zehn Jahren Amtszeit offiziell verabschiedet, sein Amt wird abgeschafft.

Die Stasi-Akten werden vom Bundesarchiv übernommen, die Akten sollen offen bleiben, Auskünfte weiter erteilt werden. Das Gesetz für die Stasi-Unterlagen gilt auch in Zukunft, so hat es der Bundestag beschlossen. Die rund 1300 Mitarbeiter der Jahn-Behörde werden übernommen. Das Archiv bleibt aber am historischen Ort der einstigen Stasi-Zentrale in Berlin sowie an den 13 ostdeutschen Standorten.

Noch-Behördenleiter Jahn zeigt sich zufrieden. Die Aufarbeitung könne mit einer gesamtdeutsch angelegten Struktur weitergehen, sagt der einstige DDR-Oppositionelle der Nachrichtenagentur dpa. «Mit der Überführung der Akten werden sie Teil des Gedächtnisses der Nation.» Damit sei die Errungenschaft der friedlichen Revolution auch künftig sicht- und nutzbar. Die Stasi-Akten könnten bei einem Dialog der Generationen helfen. Bewahrt würden Dokumente begangenen Unrechts, aber auch Zeugnisse des Freiheitswillens.

Zur Bilanz sagt der 67-Jährige auch, die MfS-Akten würden zunehmend für den gesellschaftlichen Diskurs genutzt, man sei weggekommen von der absoluten Fixierung auf die Stasi. «Jetzt wird DDR-Geschichte mehr insgesamt betrachtet. Wir haben erreicht, dass die Behörde nicht als Amt für absolute Wahrheit aufgetreten ist und kein Geschichtsbild vorgegeben hat.»

Die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft zeigt sich mit der Arbeit der Bundesbehörde zufrieden. Vereinsvorsitzender Dieter Dombrowski sagt auch, Roland Jahn sei stets Fürsprecher der Opfer gewesen. Ein Ende der Aufarbeitung befürchtet der Verein nicht. «Ganz im Gegenteil, wir gehen davon aus, dass das Bundesarchiv die gute Arbeit des BStU (Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen) weiterführen und sogar noch verbessern wird», so Dombrowski.

Nach dem Mauerfall hatten mutige DDR-Bürgerrechtler die weitere Vernichtung von Stasi-Akten gestoppt. Die Hinterlassenschaft mit Millionen Blättern, Tausenden Fotos und Tonträger war die Basis für den Aufbau der Stasi-Unterlagen-Behörde. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte 2020 die Öffnung der Akten als zutiefst demokratischer Akt gewürdigt. Die Stasi-Unterlagen-Behörde sei weltweit einzigartig und werde zu Recht respektiert, hatte er betont. Am 29. Dezember 1991 trat das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft.

Seit 1992 - dem ersten Jahr der Akteneinsicht - wurden in Ostdeutschland mehr als 520.000 Anträge auf persönliche Einsicht gestellt. 2020 waren es noch mehr als 35.000. Hinzu kamen insgesamt 3,4 Millionen Ersuchen öffentlicher Stellen etwa für Überprüfungen im öffentlichen Dienst sowie Anträge von Forschern und Medien. Bei der Bundesbehörde gingen seit ihrem Bestehen insgesamt 7,3 Millionen Ersuchen und Anträge ein, auch von Behörden und Wissenschaftlern.

Ein Argument für die gravierenden Veränderungen war: Technik, Ressourcen und Kompetenzen sollen gebündelt werden. Viele der Papiere sind in einem schlechten Zustand, Unterlagen sollen digitalisiert werden. Der Sanierungsstau in den ostdeutschen Archiv-Standorten ist riesig. Das Konzept für die Überführung der Stasi-Akten hatte Jahn zusammen mit dem Chef des Bundesarchivs, Michael Hollmann, erarbeitet. Im November 2020 wurde es dann vom Bundestag beschlossen.

Doch nicht alle sehen die Entwicklung positiv. Kritiker befürchten eine Abwicklung von Geschichte. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hatte der «Berliner Zeitung» gesagt, mit dem «Schleifen» der Behörde werde den Gegnern der kompromisslosen Aufarbeitung eine Freude gemacht. Die Stasi-Unterlagen-Behörde sei mehr als ein Archiv gewesen. Ihre Stilllegung könnte zum Menetekel der weiteren gesellschaftlichen Marginalisierung der SED-Aufarbeitung werden.

Zur Stasi-Hinterlassenschaft gehören allein mehr als 111 Kilometer Schriftgut. Zudem lagern bis heute in mehr als 15.000 Säcken zerrissene und noch nicht erschlossene Papiere. Die in großem Stil geplante, virtuelle Rekonstruktion kam bislang nicht zustande. 2019 rekonstruierten laut Jahn Mitarbeiter per Hand den Inhalt von sieben Säcken. Wie das Projekt weitergeht, ist unklar.

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Martin Rosse 12.06.21 19:49
Stasi Unterlagen vernichten
- erst dann ist dieser Teil der Vergangenheit abgeschlossen. Wem nutzen die bespitzelten privaten & persönlichen Details der Menschen? Wer möchte sich den Zugriff darauf offen halten, und macht sich die Mühe selbst geschreddert Dokumente wieder lesbar zu machen?
Alfred Koller 12.06.21 19:48
STASI Vergangenheit
Wer nicht aus der Vergangenheit lernt, ist verdammt sie zu wiederholen.