Michel Barnier kämpft gegen das Gespenst des «No Deal»

Foto: epa/Piotr Nowak
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BRÜSSEL: Enthusiasmus und Empörung: Der Chefunterhändler der Europäischen Union verrät sein Rezept für erfolgreiches Verhandeln in schwierigen Zeiten. Die Trennung der Briten von der EU wird aber besonders kompliziert.

Hoch aufgerichtet steht er da, die blauen Augen blitzen, beredt erläutert Michel Barnier seine Sicht auf die EU-Verhandlungen mit Großbritannien. Doch dann bringt eine letzte Frage den Verhandlungsführer der Europäischen Union ins Stottern: Ob die kommenden zehn Monate wohl die schwierigsten seiner langen politischen Laufbahn werden? «Es wird sehr schwierig, aber es war schon sehr schwierig in den vergangenen drei Jahren», sagt der Franzose schließlich - da hat er sein Mandat gerade bekommen. Am Montag begann dann der Ernst der Verhandlungen.

Barnier soll mit den Briten einen Vertrag über deren künftige Beziehungen zur EU aushandeln. Die Grundlagen für einen fairen Wettbewerb ohne Sozial- oder Umweltdumping, ein zollfreier Zugang der Briten zum europäischen Markt, ein Zugang der EU-Fischer zu britischen Fanggründen, die Auslieferung von Straftätern, Luftverkehr und Bankgeschäfte, Verfahren zur Streitschlichtung - all das und vieles mehr soll vor Jahresende geregelt sein. Manche halten das für ein Ding der Unmöglichkeit, weit liegen die Positionen auseinander.

Die Briten etwa wollen Fragen der Fischerei nicht mit den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen verbinden, die EU schon. Großbritannien exportiert jährlich Fisch für 1,79 Milliarden Euro - den größten Teil davon in die EU. Deshalb gehören Fisch und Handel zusammen, argumentiert man in Brüssel. Verantwortliche Briten sehen das lockerer: Für Meerestiere fänden sich schon Märkte, und Zölle auf Fisch seien - anders als für Rindfleisch - generell eher niedrig.

So geht es quer durch alle Themen: Trennungsanwalt Barnier erkennt erheblichen Bedarf an rechtlich einwandfreien Regelungen, die Großbritanniens besondere wirtschaftliche und geografische Nähe berücksichtigen. Mit dem Dossier vertraute Briten hingegen sagen, ihr Verhandlungsmandat beruhe auf den Freihandelsabkommen der EU mit Japan, Südkorea und Kanada. Kanada jedoch liege viele Flugstunden entfernt, entgegnet Barnier, vom französischen Calais ins englische Dover seien es gerade einmal 34 Kilometer Luftlinie.

Immer wieder knetet Barnier seine Hände, wenn er die komplexen Probleme beschreibt. Die erste Phase der Brexit-Verhandlungen hat er schon zu einem guten Ende geführt. Nun sind die Briten rechtlich draußen. Die zweite, entscheidende Etappe beginnt. Bekommt Barnier keine Einigung zustande, drohen unabsehbare wirtschaftliche Folgen und in Irland neue Unruhen. Dieses Gespenst eines «No Deal» treibt den Franzosen merklich um. Er fühle sich geehrt, sagt Barnier, dass er die Verhandlungen übertragen bekam. Endeten sie ohne Abkommen, müsste er das wohl als persönliche Niederlage empfinden.

Erfüllt der Mann aus Savoyen indes die Brüsseler Erwartungen, wäre es die Krönung einer fast 50 Jahre währenden Karriere in der Politik. Doch auch sein Gegenüber ist kein Anfänger: Der britische Chefunterhändler David Frost gilt als überzeugter Anhänger der Brexit-Idee - und als echter Profi. Der Handelsexperte und Karrierediplomat dürfte sich - anders als die ehemaligen Brexit-Minister David Davis, Dominic Raab und Stephen Barclay - kaum mit Wissenslücken blamieren.

Bei allen Gegensätzen in der Sache teilen die beiden Männer eine Überzeugung: «Wir haben sehr wenig Zeit vor uns, sehr wenig Zeit», sagt Barnier. Und Frost schrieb schon 2016, kurz nach dem Votum der Briten für den EU-Austritt: «Als früherer Unterhändler in Handelsgesprächen glaube ich nicht, dass wir uns auf ein Freihandelsabkommen nach dem Vorbild Kanadas oder der Schweiz in zwei Jahren einigen, es ratifizieren und umsetzen können.» Die zwei Jahre sind inzwischen auf kaum zehn Monate geschrumpft.

Wird dies also Barniers schwerste Aufgabe? «Was zählt», antwortet der überzeugte Europäer, «ist, sich das gleiche Maß an Enthusiasmus und an Empörung zu bewahren.» Und alltägliche Probleme in eine größere Perspektive zu setzen: «Die Perspektive ist der Frieden in Irland. Wir werden nichts tun, das diesen Frieden gefährdet. Und es ist die Perspektive einer umfassenden Beziehung zu einem großen Land, das ich bewundere und respektiere - zu Großbritannien.» Diese Worte spricht der Franzose ohne weiteres Zögern aus.

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