Messerstiche als Ausweg

Schwestern töten in Russland ihren Vater

Kristina, eine der drei wegen des Mordes an ihrem Vater angeklagten Geschwister, sitzt im Bezirksgericht Basmanny. Foto: Stanislav Krasilnikov/Tass/dpa
Kristina, eine der drei wegen des Mordes an ihrem Vater angeklagten Geschwister, sitzt im Bezirksgericht Basmanny. Foto: Stanislav Krasilnikov/Tass/dpa

MOSKAU (dpa) - Mord oder Notwehr? Drei Schwestern stehen in Russland vor Gericht, weil sie ihren Vater nach jahrelangem Martyrium getötet haben. Ihnen drohen 20 Jahre Haft. Viele solidarisieren sich mit den jungen Frauen. Lässt das russische System Opfer häuslicher Gewalt alleine?

36 Messerstiche in die Brust: Der Vater ist tot, drei Schwestern sitzen auf der Anklagebank. Die drei jungen Frauen töteten im vergangenen Sommer in Russland ihren Vater. Das bestreitet keine von ihnen. Doch der Fall ist damit nicht gelöst. Was vor genau einem Jahr in einem Wohnhaus am Stadtrand von Moskau geschah, darüber spricht zur Zeit fast das ganze Land. Nun jährt sich die verhängnisvolle Tat zum ersten Mal, und in vielen Städten gehen die Menschen für die jungen Frauen aus Solidarität auf die Straße. Warum?

Maria, Angelina und Kristina - kaum volljährig - sitzen hinter Gitterstäben in einem Moskauer Gerichtssaal. Zum Zeitpunkt der Tat waren sie 17, 18 und 19 Jahre alt. Bei den Anhörungen bleiben sie stumm, fast schüchtern. Brutal erstochen, alles war als Verschwörung geplant, wirft ihnen die Anklage vor. Es war eine Verzweiflungstat, Notwehr, sie hatten keinen anderen Ausweg, argumentiert die Verteidigung. Dutzende Male stachen sie auf ihren Vater Michail ein, als er im Fernsehsessel schlief. Sollten die drei jungen Frauen als Mörderinnen verurteilt werden, drohen ihnen bis zu 20 Jahre Haft. Der Prozess soll im August in Moskau beginnen.

Jahrelang hatte der Vater mit angeblichen Verbindungen zur russischen Mafia seine Töchter misshandelt. Er soll sie eingesperrt, geschlagen und sexuell missbraucht haben. «Ich hatte Angst. Mir blieb aber nichts anderes übrig, als mich zu unterwerfen», sagte Angelina bei einer Vernehmung russischen Medien zufolge. Ansonsten hätte der 57-Jährige sie und ihre Schwestern umgebracht, ist sie sich sicher.

Wenn ihm die Wohnung nicht sauber genug war, soll er den Mädchen, die wie Sklavinnen in einer Plattenbauwohnung im Moskauer Norden lebten, Pfefferspray ins Gesicht gesprüht haben. Als Kristina sich einmal seinen Befehlen verweigerte, brachte er das Mädchen in einen Wald, band sie an einen Baum und verletzte sie mit einem Messer, wie ihr Anwalt erzählt. Die Mutter habe er schon vor Jahren aus dem Haus getrieben, aus Angst sei sie nicht zur Polizei gegangen. Die Ermittler bestätigen das Martyrium der Familienmitglieder.

In Russland wird nur selten über häusliche Gewalt in der Öffentlichkeit gesprochen. Ein umstrittenes Gesetz aus dem Jahr 2017 macht die Lage für Opfer nicht einfacher: Wer in Russland seine Frau, Kinder oder andere Angehörige verprügelt, muss zunächst lediglich mit einer Ordnungsstrafe rechnen. Eine härtere Strafe soll nur dann verhängt werden, wenn die Schläge mehr als einmal im Jahr vorkommen, Blutergüsse sichtbar sind oder Knochen brechen. Die Familie solle nicht wegen eines «Klapses» auseinandergerissen werden, argumentierte die Abgeordnete Jelena Misulina damals, die das Gesetz vorantrieb.

Nach offiziellen Angaben geschehen schätzungsweise rund 40 Prozent der Körperverletzungen in Russland innerhalb der eigenen vier Wände. Etwa 36.000 Frauen leiden demnach jeden Tag unter den Schlägen ihrer Männer, 26.000 Kinder werden täglich von ihren Eltern misshandelt. Knapp alle 40 Minuten kommt in Russland eine Frau durch häusliche Gewalt ums Leben, insgesamt sterben deswegen pro Jahr etwa 12.000 Frauen an den Folgen der Gewalt. Statistiken einer Nichtregierungsorganisation zufolge werden rund 90 Prozent der Fälle überhaupt nicht bekannt.

«Der Fall zeigt ganz deutlich: Unser System will das Problem der häuslichen Gewalt leider nicht anerkennen», sagt die Juristin Anna Riwina, die eine Anlaufstelle für Betroffene häuslicher Gewalt in Moskau leitet. «Für viele ist das lediglich eine "Familienangelegenheit", in die man sich nicht einmischt.» Diese Ohnmacht führe dazu, dass viele Betroffene nicht um Hilfe bitten, weder bei Nachbarn noch bei den Behörden.

Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte Russland erst Anfang Juli aufgefordert, Opfer besser vor häuslicher Gewalt zu schützen. Hintergrund war der Fall einer Russin, die über Jahre von ihrem Ex-Partner misshandelt, bedroht und verfolgt wurde. Obwohl sich die Frau mehrfach an Polizei und Gerichte wandte, seien die Behörden untätig geblieben.

Russische Menschenrechtler hegen nun die Hoffnung, dass der Fall der drei Schwestern etwas bewegen könnte. Die landesweite Aufmerksamkeit soll zu einer Änderung des umstrittenen Gesetzes führen. «Wir fordern Gerechtigkeit für die Frauen, die gezwungen sind, sich zu verteidigen», rufen die Organisatoren eines Protestzuges auf. In Moskau ist am kommenden Samstag (27. Juli), dem Jahrestag der Tat, eine riesige Protestaktion geplant.

Für Maria, Angelina und Kristina wird die Demonstration so schnell nichts an ihrer Lage ändern. Die drei sitzen im Hausarrest - getrennt voneinander. Sie dürfen weder mit der Außenwelt noch miteinander kommunizieren. Doch alles ist besser als das Leben mit dem brutalen Vater, sagt eine Schwester. Selbst Jahre hinter Gittern.

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