Mehr Ignoranz wagen?

Foto: Orlando Bellini/Fotolia.com
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Sarah Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“ ist eine positive Überraschung aus einer unerwarteten Ecke. Die beliebteste Politikerin der Linken spricht aus, wozu Laschet, Söder und Co. der Mumm fehlt.

Auf den Punkt beschreibt sie die Pervertierung des Begriffs linksliberal, den die moderne Lifestyle-Linke gekapert und umdefiniert hat. Aktuell sind in den Augen der Lifestyle-Linken alle Andersdenkenden schlechte Menschen, Rassisten oder gar Nazis. Selbstgefällig genießen diese Eliten einen privilegierten Lebensstil und wollen ihren Mitbürgern aufzwingen, wie sie zu denken und zu sprechen haben. Man wohnt zentral im grünen Loft, hat mindestens ein E-Auto neben dem 2,5 Tonnen SUV in der Garage und radelt gern zur Arbeit. Radikale Umformungspläne wie man sie beispielsweise im Wahlprogramm der Grünen sieht, finden diese Leute schick, meist jedoch ohne nur im Ansatz zu begreifen, was dies für die gesamte Gesellschaft bedeuten würde.

Geschickt und absolut zutreffend zeigt die promovierte Volkswirtin auf, weshalb es derzeit für Normalbürger schwierig ist eine linke Partei zu wählen. Die Grünen sind keine linke Partei mehr, sie verkörpern aktuell das bessergestellte Milieu, die Vorsitzenden der Linkspartei liebäugeln mit Kommunismus, die Vorsitzenden der SPD mit Sozialismus. Gerade die SPD hat seit Bundeskanzler Schröder, dem Genossen der Bosse, den Kontakt zu ihren Stammwählern verloren. In Gelsenkirchen wählt man inzwischen AfD und nicht mehr SPD. Warum nur?

Die Politik hat sich von den Wählerinnen und Wählern in den letzten Jahren immer weiter entfernt und stümpert weiter vor sich hin, dabei ist der wachsende Unmut in der Breite der Bevölkerung verständlich. Wenn selbst Normalverdiener aus attraktiven Städten verdrängt werden und sich Migration immer mehr auf ohnehin arme Bezirke konzentriert, muss man sich eigentlich nicht wundern. Die politisch skandalös einseitige Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien, die an den sprachlichen Umerziehungsversuchen an der Bevölkerung aktiv mitwirken, halfen bisher dabei, die eigentlichen und offensichtlichen Probleme zu verschleiern und zu verschleppen.

Bundeskanzler Willy Brandt wollte vor 50 Jahren mehr Demokratie wagen. Im September stellt sich für die Wahlberechtigten in Deutschland die Frage, ob sie mehr Ignoranz wagen wollen. Es ist kaum zu glauben, wie viele Deutsche die massiven Veränderungen in Deutschland und der Welt nicht wahrnehmen wollen. Viele wirken narkotisiert. Es ist Zeit aufzuwachen und die politische Klasse an Maßnahmen und nicht an Zielen zu messen. Es ist unbedeutend, ob man ein Klimaziel Mitte des Jahrhunderts um fünf Jahre vorverlegt, wenn die aktuell fälligen Maßnahmen unzureichend sind. Das deutsche Verfassungsgericht drängt hier in die richtige Richtung. Die Zeiten des Laberns sind vorbei. Jetzt muss geliefert werden.

Die nächste Bundesregierung ist nicht zu beneiden. Bereits jetzt beginnt Inflation in Deutschland sichtbar zu werden. Wer beispielsweise mit Holz bauen möchte, hat inzwischen Schwierigkeiten, Preise für eine Lieferung in einem halben Jahr zu erhalten, da der Holzhändler keine Planungssicherheit mehr hat und auf keinen Fall Geld verlieren möchte. Selbst Lebensmittel werden bereits spürbar teurer, Tendenz steigend. Wer auf die tatsächliche Inflation achtet und nicht auf einen beliebig zusammengestellten Warenkorb, landet bei mindes­tens fünf Prozent. Im Netz gibt es allerhand gelungene Aufbereitungen des Themas, besonders verständlich ist ein Vortrag zu den Problemen der Inflationsmessung eines Dr. Karl Friedrich Israel beim Hayek Institut.

Auch in Europa werden die Herausforderungen größer. Lediglich ohne Sinn und Verstand Geld zu verteilen, ist keine Option für die Zukunft. Europa driftet derzeit auseinander. Der Brexit ist bereits Geschichte, aktuell hat vor einigen Tagen nun auch die Schweiz klargemacht, an einem Kooperationsvertrag mit der EU nicht mehr interessiert zu sein. Wenn alles weiterläuft wie bisher, werden die nationalen Kräfte in Europa in den nächsten Jahren die Oberhand gewinnen.

Die Bürger Europas müssen sich fragen, ob sie in Zukunft noch mehr Ignoranz wagen wollen oder vielleicht doch lieber auf Kant zurückgreifen, der mit „Sapere aude“ dazu aufforderte, es zu wagen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.


Über den Autor

Christian Rasp ist Rechtsanwalt und seit 1992 in Thailand, Hong Kong und China tätig. Er leitet ein spezialisiertes Consulting Haus und ist seit 2016 als Chairman einer der ältesten digitalen Marketingagenturen in Südostasien tätig. Feedback zum Gastbeitrag per E-Mail erwünscht!

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