Mehr als 300 Tote bei Erdbeben - Weitere Opfer befürchtet

Gruppen von Menschen suchen nach einem Erdbeben der Stärke 7,2 in Los Cayos nach Überlebenden. Foto: epa/Ralph Tedy Erol
Gruppen von Menschen suchen nach einem Erdbeben der Stärke 7,2 in Los Cayos nach Überlebenden. Foto: epa/Ralph Tedy Erol

SAINT-LOUIS-DU-SUD: Erneut hat in Haiti die Erde gebebt. Es gibt zahlreiche Opfer, viele Gebäude sind zerstört. Interims-Premierminister Ariel Henry ruft den Notstand aus. Erinnerungen an das verheerende Beben im Jahr 2010 werden wach.

Bei einem schweren Erdbeben im Süden Haitis sind mindestens 304 Menschen ums Leben gekommen. Mehr als 1800 Menschen wurden verletzt, wie der Katastrophenschutz des Landes auf Twitter am Samstagabend (Ortszeit) meldete. Darüber hinaus wurden zahlreiche Gebäude zerstört. Rettungskräfte und Bürger bargen zahlreiche Menschen aus den Trümmern. Es werden noch mehr Opfer befürchtet.

Das Beben, dessen Stärke die US-Behörde USGS mit 7,2 angab, ereignete sich am Samstagmorgen rund zwölf Kilometer von der Gemeinde Saint-Louis-du-Sud in einer Tiefe von rund zehn Kilometern. Danach wurde Haiti von mehreren Nachbeben erschüttert, die nach USGS-Angaben Stärken bis zu 5,2 erreichten. Das Beben weckt Erinnerungen an das verheerende Erdbeben im Jahr 2010, bei dem mehr als 220.000 Menschen ums Leben gekommen waren.

Der Nationale Wetterdienst der USA (NOAA) gab zunächst eine Tsunami-Warnung heraus - nahm diese aber kurze Zeit später wieder zurück. Viele Gebäude wurden durch das Beben zerstört, wie auf Fotos und Videos in sozialen Netzwerken zu sehen war. Berichten zufolge wurden Menschen unter Trümmern begraben, Krankenhäuser waren überlastet und beschädigt. Die Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO) schickte ein Expertenteam.

Such- und Rettungsarbeiten des Internationalen Rote Kreuzes konzentrierten sich auf die Gegend um die besonders betroffenen Städte Jérémie und Les Cayes, weil dort noch Menschen eingeschlossen sein könnten. Die Organisation sandte ebenfalls Notfallspezialisten. Hilfsgüter für mindestens 4500 Menschen stünden bereit. Darüber hinaus würden in Panama und der Karibik Notfallgüter bereitgehalten und zur Verfügung gestellt.

Interims-Premierminister Ariel Henry besuchte nach eigenen Angaben das Department Grand' Anse und überflog die Stadt Les Cayes, um sich ein Bild vom Ausmaß der Schäden zu machen. Er rief einen einmonatigen Notstand aus. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Kolumbien, Argentinien, Mexiko, Kanada und die USA boten Hilfe an.

«Die Vereinigten Staaten bleiben dem haitianischen Volk ein enger und beständiger Freund, und wir werden auch nach dieser Tragödie da sein», hieß es in einer Mitteilung des US-Präsidenten Joe Biden. «Wir sprechen all jenen unser tiefstes Beileid aus, die einen geliebten Menschen verloren haben oder deren Häuser und Geschäfte zerstört wurden».

Die Bundesregierung rief dazu auf, die betroffenen Gebiete im Südwesten des Inselstaates zu meiden. «Es muss mit zahlreichen Toten und Verletzten sowie starken Schäden an Gebäuden und Infrastruktur gerechnet werden. Es kommt weiterhin zu starken Nachbeben», warnte das Auswärtige Amt am Samstagabend. «Meiden Sie die betroffene Gegend», hieß es in den Reise- und Sicherheitshinweisen. Von Reisen nach Haiti wird schon seit längerem dringend abgeraten.

Teile des armen Karibikstaats Haitis waren bereits im Jahr 2010 von einem schweren Erdbeben verwüstet worden. Im Zentrum des Bebens lag damals Haitis dicht besiedelte Hauptstadt Port-au-Prince. 222.000 Menschen starben, mehr als 300.000 wurden verletzt. Mehr als eine Million Menschen verloren ihr Zuhause.

Der Wiederaufbau kam auch durch die politische Instabilität nur schleppend in Gang. Der bitterarme Karibikstaat Haiti wird immer wieder von Krisen heimgesucht. Im Juli war Präsident Jovenel Moïse ermordet worden. Er wurde in seiner Residenz von einer schwer bewaffneten Kommandotruppe überfallen und erschossen.


Experte: Was bei dem Erdbeben passierte

POTSDAM: Dass Haiti immer wieder von schweren Erdbeben erschüttert wird, überrascht Experten nicht. «Das Land liegt am Rande einer großen tektonischen Platte, der Karibischen Platte», erläutert Marco Bohnhoff vom Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ). Diese bilde eine Art «Knautschzone» zwischen vier weiteren, wesentlich größeren tektonischen Platten - vor allem der Nordamerikanischen Platte.

Entscheidend für die Stärke des Erdbebens, dessen Zentrum zehn Kilometer unter der Oberfläche lag, ist dem Experten zufolge die Bruchfläche: Sie beträgt auf einer Länge von 70 Kilometern senkrecht etwa 20 Kilometer. «Das Problem ist, dass das Beben fast bis an die Oberfläche gereicht hat», sagt Bohnhoff.

Im Mittel versetzte das Erdbeben, dessen Stärke die US-Behörde USGS mit 7,2 angibt, die Karibische Platte um etwa 1,5 Meter - «hauptsächlich zur Seite, aber mit einer vertikalen Komponente». Dabei wurde schlagartig Energie freigesetzt, die sich durch die langjährige Bewegung der Nordamerikanischen Platte nach Westen mit etwa 20 Millimeter pro Jahr relativ zur Karibischen Platte aufgestaut hatte.

Die durch ein Erdbeben angerichteten Schäden hängen neben der Stärke vor allem von einem zweiten Faktor ab: von der Vulnerabilität der betroffenen Region - also von Bevölkerungsdichte und Bauweise. Das Zentrum des ähnlich starken, verheerenden Erdbebens von 2010 in Haiti lag unter der Hauptstadt Port-au-Prince - einem Ballungsraum mit mehr als zwei Millionen Einwohnern. Beim aktuellen Beben ist als große Stadt Les Cayes mit schätzungsweise rund 90.000 Einwohnern in etwa 35 Kilometern Entfernung zum Epizentrum betroffen.

Generell werden Gebäude in Haiti kaum erdbebensicher gebaut. Im Gegenteil: Zum Schutz vor Tropenstürmen seien Häuserdecken besonders massiv, sagt Bohnhoff - im Falle eines Erdbebens ein fataler Nachteil.

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