Medizin-Nobelpreis für Sauerstoff-Forschung

«Wunderschönes System»

Foto: epa/Zheng Huansong
Foto: epa/Zheng Huansong

BERLIN (dpa) - Medikamente gegen Krebs und Blutarmut: Aus den Forschungsarbeiten der diesjährigen Medizin-Nobelpreisträger könnten viele neue Therapien resultieren. Die Forscher hatten grundlegende Vorgänge in Zellen aufgeklärt.

Für die Entdeckung der Mechanismen, mit denen Zellen sich vor den Folgen eines Sauerstoffmangels schützen, erhalten zwei US-Amerikaner und ein Brite den diesjährigen Medizin-Nobelpreis. Gregg Semenza (USA), William Kaelin (USA) und Peter Ratcliffe (Großbritannien) hätten mit ihren Arbeiten gezeigt, wie Zellen den Sauerstoffgehalt in ihrer Umgebung wahrnehmen und sich daran anpassen, teilte das Karolinska-Institut am Montag in Stockholm mit. Dies eröffne neue Ansatzpunkte für die Entwicklung von Therapien gegen Blutarmut, Krebs und zahlreiche andere Erkrankungen, bei denen die Sauerstoffkonzentration im Blut eine Rolle spielt.

Ohne Sauerstoff gäbe es auf der Erde kein Leben. Tiere und auch der Mensch benötigen Sauerstoff, um aufgenommene Nahrung in den Zellen in lebenserhaltende Energie umzuwandeln. Allerdings kann sich die Menge des dort verfügbaren Sauerstoffs ändern - etwa wenn die Muskeln bei körperlicher Anstrengung viel Sauerstoff benötigen. Auf diese Änderungen müssen die Zellen reagieren.

Wie das gelingt, sei bis zu den wegweisenden Arbeiten der drei Forscher unklar gewesen, heißt es in der Begründung des Nobelkomitees. «Dieser Nobelpreis ist tatsächlich ein ganz fantastischer Nobelpreis, der einen absolut fundamentalen Mechanismus des Lebens herausstellt», sagte Hellmut Augustin vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Die höchste Auszeichnung für Mediziner ist in diesem Jahr mit umgerechnet 830 000 Euro (9 Millionen Schwedischen Kronen) dotiert.

Gregg Semenza vom Johns Hopkins Institute for Cell Engineering in Baltimore fand in den frühen 1990er Jahren heraus, dass ein bestimmter Proteinkomplex wesentlich an der Reaktion auf Sauerstoffarmut beteiligt ist. Der Name des Faktors: HIF (Hypoxia Inducible Factor). Der 1956 in New York geborene Biologe zeigte, dass ein Bestandteil des Komplexes, HIF-1alpha genannt, bei niedrigem Sauerstoffgehalt das Erythropoietin-Gen aktiviert. Dies führt zu einer besseren Versorgung der Zellen mit Sauerstoff - wirkt also dem Sauerstoffmangel entgegen.

Als «ein wunderschönes System» hatte Gregg Semenza diesen Mechanismus bezeichnet, als er 2016, ebenfalls gemeinsam mit Ratcliffe und Kaelin, den renommierten Lasker-Award bekam. Der Brite Ratcliffe von der Oxford University, 1954 in Lancashire geboren, erweiterte das Wissen um die Funktion des HIF-1alpha-Proteins. Er und Semenza zeigten, dass nicht nur EPO, sondern bis zu 300 weitere Gene davon reguliert werden und dass der Mechanismus in nahezu allen Zellen vorhanden ist.

Bei normalem Sauerstoff-Gehalt wird HIF-1alpha schnell im Körper abgebaut. Bei der Klärung der Frage, wie das genau geschieht, spielten die Forschungen des Mediziners Kaelin von der Harvard Medical School in Boston, geboren 1957 in New York, eine wichtige Rolle. Er hatte eine Krebserkrankung, das Hippel-Lindau-Syndrom, untersucht. Dabei ist ein Gen verändert, wodurch der Abbau von HIF-1alpha gestört wird. Die Zelle empfindet einen Sauerstoffmangel, obwohl keiner vorliegt. Die daraufhin eingeleiteten Gegenmaßnahmen, etwa das Wachstum neuer Gefäße für eine bessere Sauerstoffversorgung, führen zu den typischen Kennzeichen der Krebserkrankung.

Die Aufklärung dieser Grundlagen könnten neue Krebstherapien ermöglichen, hoffen Experten. «Dieses System machen sich viele Tumore zu eigen, um auf aggressivere Art und Weise zu wachsen», erläuterte Olle Kämpe, Mitglied der Nobelversammlung des Karolinska-Instituts in Stockholm. «Viele Krebsformen tun das, besonders Nierenkrebs.»

«Wenn der Tumor immer größer wird, dann bekommen die inneren Teile des Tumors immer weniger Sauerstoff. Hier spielt die Hypoxie eine wichtige Rolle», erläuterte Soni Savai Pullamsetti vom Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung im hessischen Bad Nauheim. «Deshalb ist die Forschung zur Sauerstoffregulierung wirklich wegweisend.»

Auch Hans Lehrach vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin sieht künftige Anwendungsmöglichkeiten in der Krebstherapie. «Ein besseres Verständnis der Prozesse führt dazu, dass wir vielleicht in diesen Teil der Tumorgenese eingreifen können und dann Medikamente entwickeln können. Nach Angaben des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller (vfa) werden entsprechende Arzneimittel bereits in kleinem Maßstab erprobt.

Weitere Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich demnach etwa für die Behandlung von Blutarmut. Hier können Präparate helfen, die den Abbau von HIF-1alpha verhindern. Der Körper reagiert auf die vermeintliche Sauerstoffarmut dann mit Gegenmaßnahmen für eine bessere Sauerstoffversorgung.

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