Lenin - Per Zug von Zürich in die Weltgeschichte

Foto: dpa/Upi
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ZÜRICH (dpa) - Schweizer Schokolade und die Bibliotheken haben es dem Flüchtling Wladimir Uljanow zwar angetan. Aber ansonsten hat der Russe das bürgerliche Leben in Bern und Zürich schnell satt. Im März 1917 schreibt er genervt an eine Freundin: «Wir fürchten, dass es uns nicht so bald gelingen wird, aus der verfluchten Schweiz herauszukommen.»

Die Furcht ist unbegründet. Uljanow, besser bekannt als Lenin, verpasste zwar die Februarrevolution in Russland und den Sturz des letzten Zaren. Doch mit deutscher Hilfe schaffte er es rechtzeitig in die Heimat zu seiner eigenen Revolution. Am 9. April 1917 steigen der Genosse, seine Frau und gut zwei Dutzend Mitstreiter um kurz nach 15 Uhr in Zürich in den Zug. Am Abend des 16. April werden sie in Petrograd, heute St. Petersburg, stürmisch begrüßt. Nach tumultreichen Monaten erringt Lenin im November schließlich die Macht: Aus dem Mann, der wegen seiner stämmigen Gestalt als Kind «Kubyschka» (Fässchen) gerufen wurde, ist der Vater der kommunistischen Oktoberrevolution geworden.

Mit dem Mythos der Fahrt Zürich-Petrograd in einem «plombierten» Zug räumten Historiker später auf. Versiegelt waren die beiden Waggons nicht, die über Berlin und Skandinavien nach Russland rollten. Lenin hatte aber verlangt, sie als «exterritorial» zu deklarieren, um Passkontrollen oder Kontakte mit Deutschen zu vermeiden.

Dem Deutschen Reich lag im Zweifrontenkrieg des Ersten Weltkrieges viel daran, die Reise zu fördern. Von «hervorragenden Revolutionären» sprach der damalige deutsche Gesandte in Bern, Gisbert Freiherr von Romberg, wie Werner Hahlweg 1957 in einer facettenreichen Beschreibung der Vorgänge in der Reihe «Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte» beschrieb. Deutschland wollte in Russland Chaos schüren, um einen Separatfrieden zu erreichen.

Was hatte Lenin in die Schweiz verschlagen? Er war 1914 in Galizien (damals Teil des österreichischen Kaiserreiches, heute Südpolen) vom Ausbruch des Krieges überrasch worden. Als feindlicher Ausländer wurde er festgenommen, durfte aber schließlich mit seiner Frau Nadeschda Krupskaja und deren Mutter in die Schweiz ausreisen.

So richtig warm wurden die beiden dort nicht. Das «verschlafene Bern» fand Lenin kleinbürgerlich, wie er in Briefen schrieb. Eine Vermieterin schmiss die Familie raus, weil Nadeschda tagsüber einmal das elektrische Licht angemacht hatte. Anfang 2016 zogen sie nach Zürich. Nadeschda stöhnte in ihren Memoiren später noch über eine grauenhaft stinkende Wurstfabrik im Hinterhof.

Eines hat die beiden aber schwer beeindruckt: das schweizerische Bibliothekswesen. Lenin fand die Auswahl vor allem in Zürich exzellent. Dort schrieb er an seinem Buch «Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus». In der Zentralstelle für soziale Literatur wurde der Benutzer mit der Nummer 4.585 Dauergast, wie das Schweizer Sozialarchiv an alten Dokumenten sieht. Der damalige Chef der Zentralestelle Sigfried Bloch notierte: «Lenin hielt sich im Lesesaal ... täglich vier Stunden auf.»

So fand eine Schweizer Errungenschaft Eingang in das revolutionäre Russland: Lenin ordnete den Aufbau von Bibliotheken nach Schweizer Muster an, mit langen Öffnungszeiten und Fernausleihe. So wurden die Schweizer noch bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts erster Ratgeber, wenn Russland Hilfe beim Aufbau der Bibliotheken brauchte, wie das Sozialarchiv berichtet.

Ein Theaterensemble steigt am 9. April in Zürich mit Publikum in einen Dampfzug nach Schaffhausen, um die legendäre Fahrt Lenins in «Zürich-Petrograd - einfach» szenisch zu beleuchten. Dabei sollen Passagiere zur Sprache kommen, und «Menschen, die in der Revolution unter die Räder gerieten». Der Text stammt von der in Leningrad geborenen Schauspielerin Maria Thorgevsky (57), die auch Regie führt.

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