Sommermärchen ein deutscher Fußball-Mythos

Foto: epa/A9999 Peter Steffen
Foto: epa/A9999 Peter Steffen

BERLIN (dpa) - Kein Sportereignis hat Deutschland so verändert wie die Fußball-WM 2006. Der Welt wurde Leichtigkeit demonstriert. Das passte zum neuen Spielstil der Elf von Bundestrainer Klinsmann. Zwölf Jahre später werden aber auch Schattenseiten mit dem Sommermärchen verbunden.

In Märchen erfährt man oft etwas über Anstand und Moral. Häufig kommt die Botschaft verspätet oder nur verschlüsselt zutage - das deutsche Sommermärchen, das rauschende Fußball-Fest im Jahr 2006, passt also tatsächlich in dieses Genre. Zwölf Jahre nach diesem perfekten WM-Sommer, in dem das Image des hässlichen Deutschen durch Offenheit, Gastfreundschaft, Leichtigkeit und, ja, sogar Humor in die Fußball-Mottenkiste gepackt wurde, hängt ein grauer Schleier über den immer noch seelig machenden Erinnerungen.

«Das Ansehen Deutschlands in der Welt ist nach dieser WM ein anderes», sagte Franz Beckenbauer 2006, als Fußball-Deutschland nach der WM glücklich Bilanz zog und das Ausland sich über und mit den plötzlich liebenswerten Teutonen freute. Beckenbauers eigenes Ansehen ist heute auch ein anderes. Allerdings zum Leidwesen des Kaisers.

Allen Dementis der damals Beteiligten und heute Beschuldigten zum Trotz: Die Machenschaften des WM-Organisationskomitees um dessen Chef Beckenbauer mit den dubiosen Geldflüssen von 6,7 Millionen Euro Richtung Katar wirken für viele wie ein Stimmungsdämpfer. Es bleibt die Erkenntnis, dass sich auch die deutschen Bosse den Gewohnheiten des Fußball-Feudalprinzips unter dem damaligen FIFA-Boss Joseph Blatter offenbar nicht entziehen konnten - vor und nach dem hart erkämpften WM-Zuschlag gegen Südafrika im Jahr 2000.

Dabei war 2006 doch alles so schön. Nach Tagen des nervenden, kalten Nieselregens riss sogar der Himmel auf: am 9. Juni, als in der Allianz Arena in München das Turnier eröffnet wurde. Natürlich hatte auch das der Kaiser ermöglicht, mit seinem Draht zum Fußball-Gott, so besagt es die märchenhafte Legende. Costa Rica war für die zuvor keineswegs souveräne deutsche Elf um den verletzten Kapitän Michael Ballack ein willkommener Auftaktgegner. Das 4:2 war für den alles andere als im späteren Heldenstatus befindlichen Bundestrainer Jürgen Klinsmann und seinen Assistenten, den heutigen Weltmeister-Trainer Joachim Löw, eine Erleichterung. Dieser Sieg machte Lust auf mehr.

Fünf Tage später flitzte David Odonkor in letzter Sekunde über die rechte Außenbahn, und Oliver Neuville hielt den Fuß hin. Das 1:0 gegen Polen wirkte wie der Urknall für ein großes Fußball-Fest. Jetzt war Party angesagt. «Die Hälfte der deutschen Bevölkerung hat sich der WM zugewandt. Das ist ein phänomenaler Wert», analysierte später der Medienforscher Josef Hackforth. «So bunt ist unser Land selten gewesen», meinte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble.

Es folgten Siege gegen Ecuador und Schweden. Und dann das legendäre Elfmeterschießen gegen das sportlich viel bessere Argentinien. Der siegbringende Spickzettel im Stutzen von Torwart Jens Lehmann hat heute seinen Platz im deutschen Fußballmuseum. Es hätte sogar ein Happy End geben können - wie in jedem ordentlichen Märchen. Doch der Spielverderber hieß Italien. Ballacks Tränen nach dem dramatischen 0:2 nach Verlängerung in Dortmund spiegelten das Gefühl der ganzen Fußball-Nation wider.

Das 3:1 im Spiel um Platz drei gegen Portugal wurde zum Symbol der guten Gastgeber-Elf die unter dem Kosmopoliten Klinsmann erstmals ein liebenswertes Ebenbild eines multikulturellen Deutschlands war. Schwarz-Rot-Gold konnte unbeschwert getragen werden.

Nach internen Debatten zwischen den Platzhirschen Ballack und Torsten Frings ließen sich die neuen Helden dann auch noch von ihren Fans vor dem Brandenburger Tor in Berlin feiern. Wenige Kilometer westwärts hatte einen Abend zuvor Italien im Elfmeterschießen gegen Frankreich seinen vierten WM-Titel gefeiert - und Zinedine Zidane nach dem Kopfstoß gegen Provokateur Marco Materazzi einen Abgang von der Fußball-Bühne mit Platzverweis und Knalleffekt hingelegt.

All dies war längst glorifizierte Fußball-Geschichte, als ein knappes Jahrzehnt später die FIFA ins Wanken geriet. Die knallharte US-Justiz deckte viele Funktionärs-Untaten auf, und das marode System Blatter zerbröselte zwischen den Skandalen. In jenen aufgeregten Frühsommertagen 2015 erfuhr der damalige DFB-Chef Wolfgang Niersbach, 2006 erster Zuarbeiter Beckenbauers, dass belastende deutsche WM-Akten in den Händen von Schweizer Ermittlern lagen.

Es folgten mehrere Monate des miserablen Krisenmanagements, an deren Ende Niersbach seine Posten bei DFB, FIFA und UEFA los war und der DFB sich unter dem neuen starken Mann Reinhard Grindel an der Aufarbeitung der dunklen Teile der Sommermärchen-Zeit versuchte. Im sogenannten internen Freshfields-Bericht wurde auf 380 Seiten viel notiert, aber längst nicht alles beantwortet. Der DFB erklärte die WM-Affäre dennoch für beendet.

Die beschädigte Lichtgestalt Beckenbauer hat sich auch nach manch privatem Schicksalsschlag in den Schmollwinkel verabschiedet. Der Adressat der 6,7 Millionen Euro, der skandalumwitterte Katarer Mohamed bin Hammam, trug bislang nichts zur Aufklärung bei. So halten sich Gerüchte und Vermutungen. Diente das Geld der Bestechung asiatischer Wahlmänner? War es das Ausfallhonorar für einen geplatzten TV-Deal?

Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt hat Anklage erhoben gegen Niersbach, dessen DFB-Vorgänger Theo Zwanziger und den einstigen DFB-Top-Funktionär Horst R. Schmidt wegen Steuerhinterziehung. Die 6,7 Millionen wurde einst als Betriebsausgabe geltend gemacht. Das Trio bestreitet jede Schuld. In der Schweiz wird wegen der dubiosen Zahlungen unter anderem auch gegen Beckenbauer ermittelt. «Es hat alles funktioniert», sagte dieser 2006 in seiner Turnierbilanz. Der Satz klingt heute unangenehm doppeldeutig.

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