​​Zwölfjähriger Archie ist tot

​Lebenserhaltende Maßnahmen beendet

Foto: epa/Andy Rain
Foto: epa/Andy Rain

LONDON: Ein tragischer Fall nimmt in England das lange befürchtete Ende: Nach monatelangem Rechtsstreit muss sich die Familie eines zwölfjährigen Jungen von ihm verabschieden. Archies Tod reiht sich ein in eine Serie trauriger Fälle in Großbritannien.

Die Eltern verbrachten nach monatelangem Kampf letzte wertvolle Stunden mit ihrem Sohn, dann erlosch auch der letzte Funke Hoffnung: In einem Londoner Krankenhaus sind die Geräte abgestellt worden, die den seit Monaten im tiefen Koma liegenden Jungen Archie am Leben gehalten hatten. Der Zwölfjährige starb am Samstag um 12.15 Uhr (Ortszeit), wie seine Mutter Hollie Dance vor dem Krankenhaus bekanntgab. «Er hat bis zum Schluss gekämpft. Ich bin so stolz, seine Mutter zu sein.»

Archie lag seit April im Koma. Bei einem Unfall zu Hause in Southend-on-Sea rund 60 Kilometer östlich von London hatte er sich schwere Hirnverletzungen zugezogen, womöglich bei einer Internet-Mutprobe. Die behandelnden Ärzte sahen keine Chance auf eine Genesung. Im Royal London Hospital wurde er unter anderem mit Beatmungsgeräten und Medikamenten am Leben gehalten.

Die Eltern hatten rechtlich mit allen Kräften um ihren Sohn gekämpft - erst um sein Leben, dann um die Umstände seines Todes. Zuletzt wollten sie ihn vom Krankenhaus in ein Hospiz verlegen lassen, damit er seine letzten Stunden in einer ruhigeren, friedlicheren Umgebung erleben könnte. Entsprechende Anträge vor dem Berufungsgericht in London und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg waren am Freitag jedoch gescheitert.

Das Krankenhaus hatte einen Umzug ins Hospiz zuvor abgelehnt - zu instabil sei der Zustand des Jungen, zu groß das Risiko, ihn in einem Krankenwagen zu transportieren. Auch das Londoner Berufungsgericht erklärte, es sei im besten Interesse des Jungen, die lebenserhaltenden Maßnahmen im Krankenhaus statt in einer anderen Umgebung einzustellen. Das Gericht in Straßburg erklärte danach, der Antrag falle nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.

Damit waren alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft. «Ich habe alles getan, was ich meinem kleinen Jungen versprochen habe», sagte seine Mutter am Freitagabend dem Sender Sky News. Unter Tränen stellte sie fest, dass es nichts mehr gebe, was die Familie tun könne. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie schon, dass das Krankenhaus die lebenserhaltenden Maßnahmen am nächsten Vormittag beenden würde.

Nach Angaben seiner Familie wurden Archies Medikamente am Samstag um 10 Uhr abgesetzt, ehe zwei Stunden später die Beatmungsgeräte entfernt wurden. Ella Carter, die Verlobte von Archies älterem Bruder Tom, sagte heftig weinend an der Seite der Mutter: «Es ist absolut nichts Würdevolles daran, einem Familienmitglied oder einem Kind beim Ersticken zuzusehen. Keine Familie sollte das jemals durchmachen müssen, was wir durchgemacht haben. Es ist barbarisch.»

Der Krankenhausbetreiber Barts Health NHS Trust bestätigte, dass Archies Behandlung im Einklang mit den Gerichtsentscheidungen zu seinem Wohl eingestellt worden und er am Nachmittag verstorben sei. Familienangehörige seien am Krankenbett bei ihm gewesen. «Dieser tragische Fall hat nicht nur die Familie und seine Betreuer betroffen, sondern auch die Herzen vieler Menschen im ganzen Land berührt», erklärte der Chief Medical Officer, Alistair Chesser.

Die Anteilnahme für Archies Familie war in der Tat groß gewesen. Viele Menschen brachten am Samstag unter anderem Blumen zum Krankenhaus. An einer Statue vor dem Gebäude formten Kerzen zudem ein Herz, das eine Karte mit Archies Namen umrahmte.

Der Fall erinnert an ähnliche Auseinandersetzungen um unheilbar kranke Kinder in Großbritannien. Der finanziell stark unter Druck stehende britische Gesundheitsdienst NHS neigt dazu, lebenserhaltende Maßnahmen sehr viel früher zu entziehen, als das etwa in Deutschland der Fall wäre. Zudem werden die Wünsche von Eltern und Angehörigen dabei nicht im selben Maße berücksichtigt. Was im besten Sinne des Patienten ist, entscheiden oft Richter auf Empfehlung von Medizinern.

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