Kunerts «Die zweite Frau»

DDR-Roman nach 45 Jahren erschienen

Foto: Wallstein-verlag.de
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KAISBORSTEL/GÖTTINGEN (dpa) - Misstrauen, Versorgungsmängel, Stasi und die Suche nach ein bisschen Glück: 1974/75 schrieb Günter Kunert einen kritischen DDR-Roman, der ihm im SED-Staat viel Ärger eingebracht hätte und wohl nie gedruckt worden wäre. Zufällig fand Kunert das vergessene Manuskript wieder.

Dieser Roman ist ein intensives Zeitzeugnis der vergangenen DDR-Realität gleich auf mehreren Ebenen. Einmal wegen des Inhalts, einer bitteren Gesellschaftsanalyse am Schicksal eines sich selbst fremden Ehepaares. Aber auch wegen der Tatsache, dass Günter Kunert das 1974/75 entstandene Manuskript für sich behielt. Der SED-Staat hätte es wohl nie gedruckt und der Autor viel Ärger bekommen - den Kunert dann aber 1976 aus anderem Grund bekam: Er war einer der ersten Unterzeichner der Petition gegen die Ausbürgerung des Liedermachers und Dichters Wolf Biermann aus der DDR. 1979 durften der Dissident Kunert und seine Frau die DDR verlassen. Seitdem leben sie in Schleswig-Holstein auf dem Land. Am 6. März wird Kunert 90. Jahre alt.

Die Frage drängt sich sofort auf: Warum soll man einen 45 Jahre alten Roman, der jetzt erstmals publiziert wird, über einen Staat lesen, den es schon lange nicht mehr gibt? Viele der damals hochbrisanten Probleme sind Geschichte, existieren nicht mehr. Etwa wenn es um fehlende Reisefreiheit geht, um Versorgungsmängel oder die Stasi.

Aber es ist auch ein Beziehungsroman, wobei die Zweckgemeinschaft zwischen Margarete Helene und Barthold selber Folge des real existierenden Sozialismus ist, wie der Leser im Laufe der Lektüre nach und nach erfährt. Nach kritischen Äußerungen verliert die Frau, die zunächst an die Versprechen des Sozialismus naiv geglaubt hatte, offensichtlich ihre Arbeit als Sachbearbeiterin - sie bekommt ein schwarzes Kreuz in die Kaderakte. Barthold, mit dem sie schon vorher liiert war, heiratet sie. Sie ist «Hausfrau» und ihrem Mann, der Archäologe ist und philosophisch interessiert, nicht ebenbürtig.

Misstrauen und Verlustängste quälen Margarete. Misstrauen, dass im Garten gefundene Knochen einer früheren Geliebten ihres Mannes gehört haben könnten. Die Unfähigkeit, offen darüber zu sprechen, ist auch Chiffre für die Ängste der Menschen in der DDR.

Barthold wiederum fühlt sich im Kollegenkreis an seinem Institut unwohl. Als er zum 40. Geburtstag seiner Frau im Intershop einen Goldring kauft, zitiert er gegenüber einem Mitbürger den französischen Philosophen und Begründer der Essayistik, Michel de Montaigne (1533-1592). Nicht die Herkunft des notwendigen Westgeldes für den Kauf im Intershop interessiert die später ihn zu Hause heimsuchende Stasi. Ihr ist zu Ohren gekommen, er habe Kontakt mit einem Ausländer, wohl einem Franzosen. «Und zwar heißt dieser Ausländer Mohnteine», sagt der tumbe Stasi-Mann.

Tristesse pur bieten die sexuellen Fantasien und Praktiken der Romanfiguren. Sex ist nicht Liebe, sondern Chiffre für Entfremdung oder momentanes sich Ausleben - eine Ersatzbefriedigung.

Kunert ist einer der produktivsten deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk umfasst vor allem Lyrik, aber auch Essays, Reisebücher, Erzählungen, Kinderbücher, Theaterstücke und Filmdrehbücher. «Die zweite Frau» ist allerdings erst sein zweiter Roman, der erste erschien 1967 unter dem Titel «Im Namen der Hüte». Stilistisch mischen sich denn auch im jetzt erschienen Roman manche Genres.

Das auch mit feinem Humor geschriebene Buch ist nicht leicht zu lesen. Viele Anspielungen setzen voraus, die Zustände in der DDR gekannt zu haben. Dazu kommt Kunerts kunstvolle, aber auch anspruchsvolle Stilistik. Die Perspektiven und Personen wechseln oft unvermittelt, dazu noch Fachbegriffe und philosophische Zitate. Wie ein prophetischer Vorgriff aufs Wendejahr 1989 und die friedliche Revolution wirkt ein von Kunert wiederholt im Roman untergebrachtes Montaigne-Zitat: «(...)in dem Durcheinander, das bei uns seit dreißig Jahren herrscht, sieht jeder Franzose, in seinem Privatleben wie in der allgemeinen Politik, sich zu jeder Stunde vor die Möglichkeit gestellt, das sein Schicksal vollständig umschlägt (...).»

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