Kriegsflüchtlinge im Süden Brasiliens - «Kleine Ukraine» wächst

Ein Mann hält eine ukrainische Flagge während einer Demonstration gegen den Einmarsch Russlands in ukrainisches Gebiet auf der Avenida Paulista in Sao Paulo. Foto: epa/Fernando Bizerra Jr
Ein Mann hält eine ukrainische Flagge während einer Demonstration gegen den Einmarsch Russlands in ukrainisches Gebiet auf der Avenida Paulista in Sao Paulo. Foto: epa/Fernando Bizerra Jr

PRUDENTÓPOLIS: Russlands Angriff auf die Ukraine hat Flüchtlinge bis ans andere Ende der Welt verschlagen. In Brasilien haben einige von ihnen ein Stück Heimat und die Einflüsse früherer ukrainischer Einwanderer gefunden.

Plötzlich ist die Ukraine auch im tiefen Süden Brasiliens ganz nah. Hinter einem grünen Hügel erhebt sich eine steinerne Tafel in Form einer Kirche mit Zwiebelturm, darauf der für die Region typische Baum Araukarie, ein verziertes ukrainisches Osterei - und der Ortsname in lateinischer und kyrillischer Schrift: Prudentópolis. Es ist kein Willkommensgruß für die Neuankömmlinge aus dem 12.000 Kilometer entfernten ostukrainischen Charkiw - Prudentópolis, umgeben von wilder Natur, gilt wegen seiner vielen ukrainischstämmigen Bewohner und der byzantinischen Architektur überhaupt als Brasiliens «Kleine Ukraine».

Und auch nach Brasilien haben es fast 200 Kriegsflüchtlinge geschafft, mehr als 25 unter ihnen nach Prudentópolis. «Ich habe nichts über Brasilien gewusst und mir Indigene und Regenwald vorgestellt», sagt Anastasia Ivanova. Die 22-Jährige Ukrainerin sitzt mit der Mutter und den Schwestern in einem Apartment im Zentrum von Prudentópolis. «Ich wusste nicht einmal, welche Sprache in Brasilien gesprochen wird.» Umso überraschter war die junge Frau, dass in der Stadt Ukrainisch die zweite offizielle Sprache ist.

Prudentópolis ist ein beschaulicher Ort, Dutzende Kirchen mit Zwiebeltürmen und Kuppeln schmücken die Stadt und die Umgebung, rund drei Viertel der 53.000 Einwohner sind Nachkommen von Ukrainern. Insgesamt hat Brasilien rund 600.000 ukrainischstämmige Einwohner, die vor allem im Süden leben.

Rodrigo Michalovski ist einer von ihnen. «Wir wachsen mit den Geschichten unserer Eltern, Großeltern auf, wie unsere Vorfahren angekommen sind», sagt der 31-Jährige. Die ersten Einwanderer aus dem damaligen Galizien kamen in den 1890er Jahren, das brasilianische Kaiserreich bot fruchtbares Land an. Auch im Zweiten Weltkrieg nahmen Städte in der Gegend Flüchtlinge auf.

Jetzt sind die neuen Flüchtlinge da, ein weltweites Netzwerk von Helfern vor allem der Kirche hat dies ermöglicht. «Wir wurden hier aufgenommen, wie wir es nicht erwartet haben», sagt Ivanova. Sie schwärmt von dem vielen Licht in der Wohnung, die Stimmung ist erstaunlich heiter. Der Bürgermeister und andere hätten sie willkommen geheißen, an vielen Gebäuden hängen ukrainische Flaggen.

Weil Prudentópolis abgelegen und die religiösen Bindungen stark sind, haben sich die ukrainische Kultur und die Sprache hier über Generationen hinweg gehalten. «Ich habe viel Liebe für meine Heimat», sagt Adélia Bohatchuk. Die 85-Jährige wohnt seit ihrem ersten Lebensjahr in einem typisch ukrainischen Haus in Prudentópolis - und mit Heimat meint sie die Ukraine.

«Als wir Charkiw verlassen haben, wussten wir nicht, wohin wir fahren», sagt Ivanova, ihre Schwestern Sofia (13) und Ruslana (6) kuscheln sich auf dem Sofa an die Mutter. In Poltawa im Zentrum der Ukraine hörten sie von einer Gruppe, die bereits gut in Brasilien aufgenommen worden war.

Die Entscheidung fiel dennoch schwer, erst im letzten Moment sagte Ivanova zu. Die Reise ins Unbekannte führte mit Bus und Flugzeug über Lwiw, Warschau, Frankfurt und São Paulo und schließlich nach Prudentópolis. Am anderen Ende der Welt fühlt sich Ivanova sehr fremd - und erkennt doch einiges wieder. Etwa die Pysankas - verzierte Ostereier, die auf dem Ukraine-Platz der Stadt stehen.

Die Volkstanzgruppe «Vesselka» trifft sich regelmäßig, auch der 31-jährige Michalovski ist dabei. Fast jeden Tag wird geprobt - im «Clube Ucraniano». Hinter der Bühne tut sich eine Schatzkammer der Tracht und Tradition auf, in der Galerie der «Vesselka»-Vorsitzenden hat auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Platz gefunden.

«Es fühlt sich für uns wie ein persönlicher Angriff an, als ob unsere Nachbarn massakriert und unser Garten zerstört würden», sagt Michalovski über den Krieg in Europa, während er Trachten aus der Ukraine zeigt, die in Prudentópolis bei Festen und Messen getragen werden. Der Zahnarzt war schon mehrmals in der Ukraine und ist in den vergangenen Wochen quasi Botschafter der brasilianischen Stadt geworden.

Am 24. Februar, als Russland die Ukraine angriff, lud Bürgermeister Osnei Stadler Menschen aus der Ukraine ein. Die brasilianische Regierung stellt humanitäre Visa aus. Stadler hofft, dass die Neuankömmlinge sich leicht einfinden, das ukrainische Erbe stärken, vielleicht bleiben - wie die Migranten damals.

«Wir planen nicht viel, leben im Hier und Jetzt», sagt Ivanova. Ihre Schwestern sollen in die Schule gehen, in Prudentópolis wird teils zweisprachig unterrichtet. Gesangslehrerin Anastasia, die bereits in der Kirche singt, ist vorher nie außerhalb der Ukraine gewesen, hier möchte sie bald Rio de Janeiro und São Paulo sehen.

«Eigentlich habe ich gedacht, ich gehe nur nach Brasilien, um zu warten, bis der Krieg zu Ende ist», sagt Ivanova. Nun ist sie nicht mehr sicher. Als Charkiw bombadiert wurde, sei etwas in ihr zerbrochen. «Hier geht das Leben weiter.» Ihre Mutter macht Pelmeni zum Mittagessen - ukrainische Teigtaschen, wie Restaurants in Prudentópolis sie mittlerweile mit brasilianischen schwarzen Bohnen gefüllt servieren. Ivanova sagt: «Wir sind hier sehr glücklich.»

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