Koalitionäre mahnen zur Ruhe

Szenarien über Regierungsumbildung

Foto: epa/Focke Strangmann
Foto: epa/Focke Strangmann

BERLIN (dpa) - Nicht nur die SPD leidet vor der Europawahl unter mauen Umfragewerten. Das befeuert Gedankenspiele über mögliche personelle Änderungen der Regierungsmannschaft der großen Koalition.

Eine Woche vor der Europawahl wächst in der Koalition die Nervosität. Führende Koalitionspolitiker wandten sich gegen Spekulationen über einen vorzeitigen Bruch des Regierungsbündnisses. Verschiedene Szenarien machten für den Fall größerer Wahlverluste für Union und SPD die Runde. Demnach könnte das schwarz-rote Regierungsbündnis auch dann stabil gehalten, aber dafür das Bundeskabinett in größerem Umfang umgebildet werden.

Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sagte: «Die Union bildet den größten Teil der Koalition, und wir sagen ganz deutlich, dass wir diese Arbeit fortsetzen wollen.» Sie habe momentan auch keine Signale der SPD, «dass sie es nicht will», sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Außenminister Heiko Maas sagte der «Passauer Neuen Presse» (Samstag): «Es erhöht nicht das Vertrauen in Politik, wenn ständig über ein Ende von Koalitionen spekuliert wird.»

Kramp-Karrenbauer trat auch Spekulationen über einen vorzeitigen Wechsel im Kanzleramt entgegengetreten. «Bis 2021 ist Angela Merkel Kanzlerin.» Sie selbst konzentriere sich auf ihre Arbeit als Parteivorsitzende. «Ich gehe von der vollen Legislaturperiode aus, und das ist auch meine Arbeitsplanung.» Die SPD hatte klar gemacht, dass sie Kramp-Karrenbauer nicht zur Kanzlerin wählen wolle.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble wandte sich gegen so einen vorgezogenen Wechsel. Eine Übergabe des Amtes innerhalb der Legislaturperiode sei nicht einfach und entspreche «auch nicht dem Geist des Grundgesetzes», sagte der CDU-Politiker im RBB-Inforadio.

Zuletzt hatte es immer wieder Spekulationen gegeben, nach denen die Koalition gefährdet ist, wenn vor allem die SPD bei der Europawahl und der gleichzeitigen Wahl in Bremen herbe Schlappen einfahren sollte. Auch ein schlechtes Abschneiden der Union bei der Europawahl könnte die Stabilität des Bündnisses zusätzlich infrage stellen. In Umfragen haben beide Partner vergleichsweise wenig Zustimmung.

Die Kanzlerin könnte aber auch durch eine größere Kabinettsumbildung einen neuen Aufbruch für die Koalition anstreben, wenn das Wahlergebnis am kommenden Sonntag einen größeren Verlust an Vertrauen in Union und SPD zeigen sollte. Nach Informationen von «Bild am Sonntag» und der Deutschen Presse-Agentur werden dabei mehrere mögliche Varianten erwogen. Demnach würden sich personelle Veränderungen nicht darauf beschränken, dass die Justizministerin und SPD-Spitzenkandidatin bei der Europawahl, Katarina Barley, nach ihrem Wechsel ins Europaparlament ersetzt wird.

Bei diesen Szenarien genannt werden auf Seiten der CDU etwa Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die nach Kritik an ihrer Amtsführung ersetzt werden könnten. Altmaier könnte demnach EU-Kommissar werden, falls Unionsspitzenkandidat Manfred Weber (CSU) damit scheitert, Kommissionspräsident zu werden. Als möglicher Nachfolger gilt Jens Spahn, der als Gesundheitsminister bereits eine beachtliche Bilanz abgeschlossener oder angestoßener Gesetze vorlegen kann. Ihm nachfolgen könnte demnach die Integrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz, ehemals Gesundheitsstaatssekretärin. Auch Bildungsministerin Anja Karliczek könnte den Gedankenspielen zufolge ersetzt werden, etwa durch Kanzleramtschef Helge Braun.

Bei der SPD scheint die Zukunft von Franziska Giffey als Familienministerin offen, abhängig vom Ergebnis der Prüfung ihrer Doktorarbeit wegen Plagiatsverdachts durch die Freie Universität Berlin. Nach einem Bericht der «Welt am Sonntag» gibt es in der SPD-Fraktion bei mehreren Abgeordneten zudem Bestrebungen, Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles im Fall großer Wahlverluste dazu bewegen, auf das Spitzenamt in der Fraktion zu verzichten.

Weiter wurden inhaltliche Differenzen deutlich. Im Streit um eine Grundrente bot Kramp-Karrenbauer der SPD zwar eine relativ schnelle Einführung an. «Wir strecken die Hand aus den Sozialdemokraten. Wir sind bereit, noch in diesem Jahr eine Grundrente einzuführen», sagte sie beim CDU-Sozialflügel CDA am Samstag in Essen. «Aber es muss eine Grundrente sein, bei der klar ist, es geht um die, die die Leistung wirklich brauchen.» Deswegen werde es ohne eine Bedürftigkeitsprüfung nicht gehen. SPD-Chefin Nahles pochte aber auf eine Umsetzung ohne so eine Prüfung. Kluge Sozialpolitik sei immer auch gute Wirtschaftspolitik, sagte sie dem «Spiegel». «Deswegen wird auch die Grundrente kommen – ohne Wenn und Aber: Für alle, die 35 Jahre gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben.»

Der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) warf der Regierung im «Tagesspiegel» (Sonntag) mangelnde emotionale visionäre Kraft vor: «Deutschland blockiert sich selbst und damit auch Europa.»

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