Wieder acht Tote nach Schüssen

​Klima der Gewalt

Forensiker sichern Spuren an einem Auto. Nach einem Angriff mit acht Toten nahe Belgrad hat die Polizei den mutmaßlichen Täter festgenommen. Foto: Armin Durgut/Ap/dpa
Forensiker sichern Spuren an einem Auto. Nach einem Angriff mit acht Toten nahe Belgrad hat die Polizei den mutmaßlichen Täter festgenommen. Foto: Armin Durgut/Ap/dpa

BELGRAD: Nach dem Schulmassaker in Belgrad trifft das Balkanland ein weiterer Schock. Ein junger Mann tötet in einem kleinen Dorf mehrere Menschen. Zu viele Waffen kursieren Experten zufolge in der Bevölkerung. Aber ist das die einzige Erklärung?

Zum zweiten Mal innerhalb von 48 Stunden hat eine Gewalttat mit vielen Toten Serbien erschüttert. Ein Mann tötete am Donnerstagabend mit einem Schnellfeuergewehr in einem Dorf bei Belgrad acht Menschen, wie das Innenministerium mitteilte. 14 weitere erlitten Verletzungen. Den mutmaßlichen Täter nahm die Polizei am nächsten Morgen in der 100 Kilometer entfernten Stadt Kragujevac fest.

Zum Zeitpunkt des Verbrechens stand Serbien bereits unter Schock - wegen einer weiteren tödlichen Gewalttat, die kurz vorher geschehen war. Ein 13-jähriger Schüler hatte am Mittwoch in seiner Schule in Belgrad acht Mitschüler und einen Wachmann erschossen. Die Polizei hatte ihn anschließend in Gewahrsam genommen. Aufgrund seines Alters ist der Täter in Serbien noch nicht strafmündig.

Auch der zweite Verdächtige ist noch jung. Das Innenministerium gab sein Geburtsjahr mit 2002 an. Er soll die Tat am Donnerstag im Dorf Dubina, etwa 50 Kilometer südöstlich von Belgrad, begangen haben. Wie Augenzeugen serbischen Medien zufolge berichteten, hatte eine Gruppe überwiegend junger Leute in einem Schulhof den orthodoxen Georgstag begangen und dabei der Opfer des Belgrader Schulmassakers gedacht.

Der spätere Täter sei mit der Gruppe in Streit geraten, habe sich entfernt und sei wenig später mit einem Wagen zurückgekehrt, aus dem heraus er in die Gruppe geschossen haben soll.

Der Mann floh im Anschluss. Die Behörden setzten eine Großfahndung in Gang. Mehr als 600 Polizisten, unter ihnen Angehörige der serbischen Anti-Terror-Einheit, sowie Hubschrauber, Drohnen und Wärmebildkameras waren im Einsatz. Am Freitagmorgen nahmen die Sicherheitskräfte den mutmaßlichen Täter am Rand der zentralserbischen Stadt Kragujevac fest.

Dort hatte er sich im Haus des Großvaters versteckt, den die Polizei ebenfalls festnahm. Bei der Durchsuchung des Anwesens fand die Polizei eine Schnellfeuerwaffe, Munition und Sprengkörper. Über die Motive des Mannes wurde zunächst nichts bekannt.

Der serbische Präsident Aleksandar Vucic bezeichnete die Bluttat als «terroristischen Akt». Ganz Serbien sei angegriffen worden, sagte er am Freitagvormittag auf einer Pressekonferenz in Belgrad. Bereits am Vortag hatte die Regierung ein Moratorium für die Ausstellung von Waffenscheinen sowie gründlichere Kontrollen bei Besitzern von zugelassenen Waffen beschlossen. «Wir werden Serbien vollständig entwaffnen», kündigte Vucic an.

Tatsächlich ist die Zahl an Schusswaffen im Besitz von Zivilisten Schätzungen zufolge enorm hoch. Während die Zahl an legal registrierten Waffen in den letzten Jahren von mehr als 900.000 auf etwas mehr als 700.000 zurückging, vermuten Experten etwa des Forschungsprojektes Small Arms Survey, dass sich rund eine Million illegal in den Händen von Bürgern befindet. Serbien hat 6,6 Millionen Einwohner.

In Hinblick auf die Alltagskriminalität ist das Land aber nicht auffällig. Touristen können sich in Serbien sicher fühlen wie anderswo in Europa auch. Sozialarbeiter berichten allerdings häufig von Fällen häuslicher Gewalt.

Ein weiteres Problem stellt die organisierte Kriminalität dar. Gemäß des Global Organised Crime Index eines internationalen Expertengremiums steht Serbien in Hinblick auf die Durchdringung mit organisiertem Verbrechen gleich hinter Russland an zweiter Stelle in Europa. Kriminelle Banden liefern sich immer wieder blutige Fehden. Ihre Anführer sind oft mit der Polizei und der Politik bestens vernetzt.

Waffenbesitz und Kriminalität sind auch ein Erbe der Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien, an denen Serbien in den 90er Jahren als treibende Kraft beteiligt gewesen war. Mafia-Führer und ihre Gangs verübten Kriegsverbrechen in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina. Durch Plünderungen im Kriegsgebiet und vom Staat geduldeten Schmuggel bereicherten sie sich maßlos. Mafia-Größen wie der 2000 ermordete Zeljko Raznatovic, genannt Arkan, pflegten in Belgrad einen glamourösen Lebensstil.

Damit wurden sie zum vermeintlich nachahmenswerten Rollenbild für zahllose männliche Jugendliche, was bis heute nachwirkt. Der mutmaßliche Attentäter aus dem Dorf bei Belgrad soll sich in sozialen Medien als bedingungsloser Fan des mehrfach veruteilten Kristijan Golubovic dargestellt haben, schrieb das Portal «nova.rs». Dieser saß wegen Straftaten wie illegalen Waffenbesitzes oder schwerer Körperverletzung mehrfach im Gefängnis und steigerte nebenher seinen Bekanntheitswert als Kampfsportler und Rapper.

Der Psychiater Dragan Vukadinovic sieht trotz des Schocks über das Belgrader Schulmassaker keine Anzeichen dafür, dass sich die Haltung zu Gewalt und Waffen in der serbischen Gesellschaft ändern würde. «Da entsteht keine kritische Masse», sagte er am Freitag in der Belgrader Tageszeitung «Danas». Für die Menschen in Nis etwa, einer Großstadt im Süden Serbiens, in der Vukadonovic tätig ist, sei das alles weit weg. «Solange wir den Kopf in den Sand stecken, wird sich nichts zum Besseren wenden.»

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