Konservative gehen ans Streikrecht

​«Klassenkampf» 

Allgemeine Nachtansicht des Parlaments in London von außen. Foto: epa/Andy Rain
Allgemeine Nachtansicht des Parlaments in London von außen. Foto: epa/Andy Rain

LONDON: Seit Monaten lähmen Streikwellen Großbritannien, immer wieder stehen Züge und Rettungswagen still. Nun werden wohl auch Klassenzimmer leer bleiben. Doch die konservative Regierung will nicht verhandeln, sondern verschärft die Gesetze.

Nun kommt es in Großbritannien zum «Klassenkampf». Tausende Lehrer in England und Wales haben für Streiks gestimmt, viele Klassenzimmer werden demnächst wohl leer bleiben - «Class War», titelte die Zeitung «Sun» doppeldeutig. Tatsächlich ist die Gesellschaft so zerrissen wie lange nicht mehr: hier die konservative Regierung, dort die Gewerkschaften und die linksliberale Opposition. Das jüngste Vorhaben von Premierminister Rishi Sunak dürfte die Kluft eher noch vergrößern.

Mit aller Macht will der Regierungschef verhindern, dass das Land - wie in den vergangenen Monaten immer wieder - zum Stillstand kommt. Keine Züge, keine Rettungswagen, keine Post, keine Grenzschützer. An diesem Mittwoch streiken erneut die Pflegekräfte des maroden Gesundheitsdiensts NHS. Die Lehrer wollen dann in zwei Wochen loslegen. Vereinigtes Streikreich statt Vereinigtes Königreich.

Das soll nach dem Willen der Regierung ein Ende haben. Deshalb will Sunak in überlebenswichtigen Branchen wie Gesundheit, Feuerwehr oder Bildung das Streikrecht weitreichend einschränken. Der Entwurf von Wirtschaftsminister Grant Shapps soll die Gewerkschaften zwingen, eine Grundversorgung sicherzustellen, etwa bei Rettungs- und Sicherheitskräften oder der Bahn. Kurzum: Beschäftigten in einigen Branchen soll das Streiken verwehrt werden. Andernfalls droht die Kündigung.

Mit großem Tempo treibt die Regierung ihr Vorhaben durchs Parlament. Der Entwurf hat bereits die zweite Lesung im Unterhaus genommen. Beobachter kommentieren, Sunak wolle nach dem Vorbild von Ex-Premierministerin Margaret Thatcher im Klassenkampf Stärke demonstrieren und damit seine enorm zerrissene Tory-Fraktion einen. Für die Konservativen stehen die Schuldigen fest: Gewerkschaftschefs, die hohe Gehälter kassierten und die Labour-Partei finanzierten. Sie seien «Roboter, die immer Nein sagen», so der Historiker Tim Stanley in der Zeitung «Telegraph».

Doch dass die Regierung demonstrativ Härte zeige, werde ihr nicht helfen, meinte der Kolumnist Martin Kettle im «Guardian». Sein Urteil: «Das Anti-Streik-Gesetz der Tories wird nur zu noch mehr Unruhen in der Wirtschaft führen.»

Tatsächlich ist die Empörung enorm. Die Regierung sei dazu übergegangen, Pflegekräfte zu entlassen statt zu beklatschen, sagte Labour-Oppositionsführer Keir Starmer mit Verweis auf den öffentlichen Applaus für NHS-Kräfte während der Corona-Pandemie. Der Chef des Gewerkschaftsbundes TUC, Paul Nowak, schimpfte: «Diese drakonische Gesetzgebung ist undemokratisch, nicht durchführbar und mit ziemlicher Sicherheit illegal.»

Der Vorwurf: Anstatt einen Kompromiss zu suchen und Jobs zukunftssicher zu machen, sorgten sich die Tories lieber darum, die Kassen der Unternehmen weiter zu füllen. «Letztendlich funktionieren Gewerkschaften, und genau deshalb gehen die Tories gegen sie vor», kritisierte die Abgeordnete Mhairi Black von der Schottischen Nationalpartei. «Die Wahrheit ist, dass dieses Gesetz die Rechte von Arbeitnehmern sowie die Demokratie untergraben und attackieren soll.»

Historisch gesehen stehen die Briten Streiks eigentlich kritisch gegenüber. Doch die Stimmung ändert sich gerade: Millionen sind von explodierenden Energie- und Lebensmittelpreisen betroffen. Die Inflation lag zuletzt bei mehr als 10 Prozent, die Reallöhne aber sind gesunken wie seit langem nicht mehr. Das spüren viele im Geldbeutel - und zeigen deshalb Verständnis für den Unmut bei Pflegekräften, Lokführern, Lehrern oder Postboten. Einer aktuellen Ipsos-Umfrage zufolge geben 57 Prozent der Regierung die Schuld an den NHS-Streiks, nur 9 Prozent den Pflegekräften.

Die «cost of living crisis», die Lebenskostenkrise, ist die größte Sorge - und auch ein Grund, warum die Konservativen, die seit bald 13 Jahren regieren, in Umfragen so miserabel da stehen. Ein Sieg von Labour bei der für 2024 geplanten Parlamentswahl zeichnet sich ab. Das führt zu einem politischen Vakuum. «Die Streiks kommen zu einer Zeit, in der das alte Regime im Sterben liegt, aber ein anderes den Platz noch nicht eingenommen hat», kommentierte «Guardian»-Kolumnistin Nesrine Malik. Ein Ende der Streiks ist nicht absehbar: Für März haben Assistenzärzte einen Ausstand angekündigt.

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