Ampel-Regierung vor dem Start - Koalitionsvertrag steht

Parteivorsitzender der FDP, kommen zu einer Pressekonferenz, um den gemeinsamen Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für die künftige Bundesregierung vorzustellen. Foto: Michael Kappeler/dpa
Parteivorsitzender der FDP, kommen zu einer Pressekonferenz, um den gemeinsamen Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für die künftige Bundesregierung vorzustellen. Foto: Michael Kappeler/dpa

BERLIN: Es gab schon wesentlich schnellere Regierungsbildungen in Deutschland - aber auch erheblich langwierigere wie vor vier Jahren. Die Spitzen von SPD, Grünen und FDP präsentieren in Berlin stolz ihren Koalitionsvertrag. Nun haben die Parteien das Sagen.

Deutschland steht nach 16 Jahren Regierung Angela Merkel vor einem historischen Wechsel zu einer rot-grün-gelben Ampel-Regierung. SPD, Grüne und FDP haben sich am Mittwoch über einen Koalitionsvertrag verständigt. Zwei Monate nach der Bundestagswahl legten sie damit den Grundstein für die erste Ampel-Bundesregierung. «Die Ampel steht», sagte der voraussichtliche künftige Kanzler Olaf Scholz in Berlin. «Uns eint der Wille, das Land besser zu machen», betonte er. Es gehe nicht um eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, «sondern um eine Politik der großen Wirkung», sagte Scholz. «Wir wollen mehr Fortschritt wagen.»

Als ein «Dokument des Mutes und der Zuversicht» bezeichnete der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck den Koalitionsvertrag. «Das Leitbild dieser Regierung ist eine handelnde Gesellschaft, ein investierender Staat und ein Deutschland, das schlichtweg funktioniert.» FDP-Chef Christian Lindner betonte: «Was jetzt gebildet wird, ist eine Regierung der Mitte, die das Land nach vorn führt.» Ziel aller drei Parteien sei es, «den Status quo zu überwinden». Lindner sagte voraus, dass Scholz ein «starker Bundeskanzler» werde.

Im Koalitionsvertrag wurde unter anderem Folgendes festgeschrieben: Die Mietpreisbremse soll verlängert werden. Zudem soll in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt die Miete binnen drei Jahren nur noch bis zu 11 Prozent steigen dürfen statt wie bisher bis zu 15 Prozent. Stromkunden sollen entlastet werden, indem zum 1. Januar 2023 die Finanzierung der milliardenschweren EEG-Umlage zur Förderung des Ökostroms über den Strompreis abgeschafft wird.

Zum Schutz der Bundeswehr-Soldaten bei Auslandseinsätzen soll eine Bewaffnung von Drohnen ermöglicht werden. Die deutschen Rüstungsexporte sollen mit einem neuen Gesetz effektiver beschränkt werden. In der Asylpolitik wurde vereinbart, dass mehr Flüchtlinge künftig ihre Angehörigen zu sich nach Deutschland holen können.

Den gesetzlichen Mindestlohn wollen SPD, Grüne und FDP von jetzt 9,60 Euro auf 12 Euro pro Stunde erhöhen. Sie verständigten sich zudem auf die Bildung eines neuen Bundesministeriums für Bauen. Vorgesehen ist auch eine Erweiterung des Wirtschaftsministeriums um das Thema Klimaschutz. Bis 2030 soll Deutschland 80 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Energien beziehen. Die Ampel-Parteien wollen den öffentlichen Nahverkehr stärken und dazu vom kommenden Jahr an die sogenannten milliardenschweren Regionalisierungsmittel erhöhen.

SPD, Grüne und FDP vereinbarten ferner, dass die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ab 2023 wieder eingehalten werden soll. Im kommenden Jahr müssten aber wegen der andauernden Pandemiefolgen noch einmal neue Kredite aufgenommen werden. Kommunen mit hohen Altschulden sollen entlastet werden.

Der Koalitionsvertrag muss bei SPD und FDP jeweils durch Parteitage und bei den Grünen in einer Mitgliederbefragung gebilligt werden. Die rund 125.000 Grünen-Mitglieder sollen nach Parteiangaben ab diesem Donnerstag in einer digitalen Urabstimmung auch über das Personaltableau der Partei, also vor allem die Besetzung von Ministerämtern, entscheiden.

Scholz ging am Abend in einem ARD-«Brennpunkt» davon aus, dass der Koalitionsvertrag von allen Parteien gebilligt werden wird. «Ich bin da sehr zuversichtlich. Es ist ein gutes Ergebnis aus der Sicht aller drei Parteien», sagte er. Scholz stellte zudem in Aussicht, dass das künftige Kabinett zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern besetzt sein wird. «Ich habe immer gesagt, dass es mir darum geht, dass die Parität auch im Kabinett gilt. Und ich halte mich an meine Worte.»

Nach dem Zeitplan der drei Parteien soll Scholz in der Woche ab dem 6. Dezember im Bundestag zum Kanzler gewählt werden. Damit endet nach 16 Jahren die Ära von Angela Merkel (CDU), die bei der Bundestagswahl am 26. September nicht wieder kandidiert hatte. Die Kanzlerin und ihre Ministerinnen und Minister von Union und SPD trafen sich am Mittwoch zu ihrer möglicherweise letzten Kabinettssitzung. Merkel erhielt von Scholz einen Blumenstrauß. Anschließend versammelte sich das Kabinett zu einem Gruppenfoto auf einer Treppe im Kanzleramt.

Auch über die Verteilung der Ressorts verständigten sich SPD, Grüne und FDP. Die SPD wird mit Olaf Scholz künftig den Kanzler stellen und zudem sechs Ministerien bekommen, die Grünen fünf und die FDP vier. Die SPD übernimmt das Innen- und Verteidigungsministerium, ein neu geschaffenes Bauministerium, sowie die Ressorts Gesundheit, Arbeit und Soziales sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit. Auch den Kanzleramtsminister wird sie stellen. An die Grünen gehen ein neu geschaffenes Wirtschafts- und Klimaministerium, das Außenministerium sowie die Ressorts Umwelt/Verbraucher, Agrar/Ernährung und Familie. Die FDP bekommt das Finanz-, Verkehrs-, Bildungs- und das Justizministerium.

Der FDP-Bundesvorstand benannte dafür Parteichef Lindner (Finanzen), Generalsekretär Volker Wissing (Verkehr), den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer Marco Buschmann (Justiz) und die Parlamentarische Geschäftsführerin Bettina Stark-Watzinger (Bildung).

Die Koalitionsverhandlungen hatten am 21. Oktober begonnen, nachdem die drei Ampel-Parteien zuvor in Sondierungen den Grundstein dafür gelegt hatten. Nach dem üblichen Rhythmus von Bundestagswochen käme das Plenum in der Nikolauswoche erstmals am 8. Dezember zusammen. Sollte dann die Kanzlerwahl stattfinden, wären seit der Bundestagswahl 73 Tage vergangenen. Zum Vergleich: Nach der Wahl 2017 dauerte die Regierungsbildung 171 Tage - so lange wie nie zuvor. Dagegen kam die erste und die zweite rot-grüne Regierung von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) 1998 und 2002 in nur 30 Tagen zustande.

In einer ersten Reaktion kritisierte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak den Koalitionsvertrag als blass und unkonkret. Gerade bei der Finanzierung der Vorhaben gebe es «mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen», bemängelte er in Berlin. Dagegen sprach Friedrich Merz, der für den CDU-Vorsitz kandidiert, von einem «interessanten Koalitionsvertrag». Er beinhalte «viel Handschrift FDP», sagte der frühere Unionsfraktionschef im Bundestag. «Man darf gespannt sein, ob die Koalition diese sehr ambitionierten Ziele tatsächlich auch erreicht.»

Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Der Koalitionsvertrag trägt eine gelbe Handschrift.» Zum ersten Mal werde eine Bundesregierung inhaltlich von einer 11,5-Prozent-Partei geführt. Der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla nannte die geplante Ampelkoalition dagegen ein «linkes Projekt», bei dem die FDP nur als «Anhängsel» diene.

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