«Dann wird Krieg zum echten Schrecken»

Kampf im Osten und im Süden   

Ein durch Beschuss schwer beschädigtes Wohngebäude. Foto: Uncredited/Ap/dpa
Ein durch Beschuss schwer beschädigtes Wohngebäude. Foto: Uncredited/Ap/dpa

KIEW/BERLIN: Die Kämpfe zwischen russischen und ukrainischen Soldaten werden auch im äußersten Südwesten stärker. Ein Brennpunkt ist die Schlangeninsel - fast schon vor der Küste Rumäniens. Kann die ukrainische Armee demoralisierte Russen zurückdrängen?

Die Küste der Ukraine vor der Hafenmetropole Odessa bleibt für russische Soldaten und ihre Angriffspläne ein gefährliches Gewässer. Sollten sie sich in Stellung bringen, um - wie aus Moskau angekündigt - weitere Abschnitte entlang des Schwarzen Meeres unter Kontrolle zu bringen - stoßen sie seit Tagen auf erhebliche Gegenwehr. Mit Kampfdrohnen vom türkischen Typ Bayraktar verhindert die Ukraine vorerst, dass Russland Stellungen auf der nur 35 Kilometer von der Küste entfernten und strategisch wichtigen Schlangeninsel ausbaut, wie der britische Geheimdienst beobachtet.

Spektakulär - so wird es in Kiew empfunden - meldete sich die ukrainische Luftwaffe im Kampf um die Schlangeninsel zurück. Anscheinend gelang es den Ukrainern zuerst, die russische Flugabwehr auf der Insel mit Drohnen zu zerstören und dann auch noch mit eigenen Erdkampfflugzeugen zu bombardieren. Das russische Militär will vier Kampfflugzeuge und zehn Hubschrauber abgeschossen haben, doch wurde der Reputation der Russen ein weiterer Schlag versetzt. Denn für die Russen hat die Insel nach dem Untergang des Raketenkreuzers «Moskwa» (Moskau) eine wichtige Bedeutung für die Luftraumkontrolle.

Im Osten der Ukraine erziele auch der neue Ansatz der russischen Armee nicht die Erfolge, die sich Moskau gedacht habe, sagt der Chefstratege des deutschen Verteidigungsministeriums, Generalleutnant Gunter Schneider, in dem militärinternen Format «Nachgefragt». Ein Grund sei das anspruchsvolle Gelände, das die Bewegungen der Truppe «kanalisiere» und keine Aufstellung in großer Breite und mit der gesamten Feuerkraft - also alle Panzer nebeneinander - zulasse. Stattdessen müssten Panzer in einer langen Reihe fahren und mehrere Verteidigungsringe der gut vorbereiteten Ukrainer durchbrechen.

Mit Artillerie und Luftangriffen versuche die russische Armee, diese Stellungen zu zerschlagen, so Schneider. Angriffe auf zivile Ziele - Infrastruktur und Wohngebäude - sind nach Einschätzung des Generals nicht dem Zufall geschuldet und auch keine Fehltreffer. Das werde bewusst gemacht, um den Verteidigungswillen der ukrainischen Zivilbevölkerung zu brechen. «Dann wird Krieg zum echten Schrecken», sagt Schneider.

Allerdings - auch das gehört zum Bild - nutzen die ukrainischen Truppen auch verlassene oder geräumte Gebäude für eigene Zwecke. Schulen und Wohnhäuser können dann zu Unterkünften und militärischen Stellungen werden.

Aus ukrainischer Sicht wurde in den vergangenen Tagen vor allem die erfolgreiche Zurückdrängung russischer Truppen von den Grenzen der ostukrainischen Metropole Charkiw hervorgehoben. Ziel war es dabei, die Stadt aus der Reichweite russischer Artillerie zu bringen und damit den Beschuss der Millionenstadt zu beenden. Einigen Beobachtern gilt das als erster wirklich durch Kämpfe erreichter Gebietsgewinn der ukrainischen Streitkräfte seit Kriegsausbruch.

Allerdings scheinen die Erfolge vor allem darauf zu beruhen, dass das russische Militär in dem Abschnitt nur schlecht ausgebildete Kämpfer aus den Separatistengebieten Luhansk und Donezk eingesetzt hatte. Ein kürzlich veröffentlichtes Video einer Gefangennahme von zwei aus Chrustalnyj (Krasny Lutsch) stammenden Soldaten, scheint die These zu belegen.

Dennoch erwartet der ukrainische Militärexperte Oleh Schdanow auch im Zusammenhang mit den eintreffenden westlichen Waffen, dass sich die Vorstöße weiter entwickeln werden. Allerdings werde wohl die russische Armee dort verstärken, teilte der 56-Jährige seine Erwartungen im ukrainischen Fernsehen mit. Er verweist auf die Rede Putins zum 9. Mai. Der Kremlchef gab der «Befreiung» der Gebiete Luhansk und Donezk dabei besondere Bedeutung.

Aktuell finden dabei schwere Kämpfe vor allem um die Städte des Luhansker Gebiets Sjewjerodonezk und Lyssytschansk statt. Russische Streitkräfte haben anscheinend trotz Verlusten erfolgreich den Fluss Siwerskyj Donezk westlich von Lyssytschansk überschritten. Und aus südlicher Richtung kommen ihnen aus dem eroberten Popasna weitere Truppen entgegen. Die Versorgungsroute von Bachmut im Donezker Gebiet nach Lyssytschansk scheint damit akut gefährdet zu sein. Der Militärgouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj, schrieb dazu: «Die Situation hat sich erheblich verschlechtert.»

An anderen Frontabschnitten im Donezker Gebiet bei Marjinka, Awdijiwka und Lyman toben ebenso intensive Kämpfe. Dabei kann das russische Militär aber nur geringfügige Geländegewinne vorweisen.

Unverändert ist dabei die Lage der im Stahlwerk Azovstal in der Hafenstadt Mariupol eingeschlossenen Soldaten. Täglicher Beschuss und Bombardements verschlechtern die ohnehin hoffnungslose Situation weiter. Die einschließlich Verwundeter noch etwa 1000 Verteidiger binden dabei jedoch weiter geschätzte 2000 Soldaten des Gegners.

Schdanow zufolge besteht weiter eine Gefahr eines Angriffs von belarussischer Seite - was einige westliche Experten zuletzt als immer unwahrscheinlicher bezeichnet haben. «Ich würde das mit 50 zu 50 bewerten», sagte Schdanow. Besonders beunruhige ihn, dass Spezialkräfte der Belarussen in Richtung ukrainischer Grenze verlegt worden seien. Ein gefährlicher Moment wäre dann erreicht, wenn die russischen Kräfte bei Isjum eine operative Pause benötigten. Dann würde ein «Entlastungsangriff» in der Nordukraine wahrscheinlicher.

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