Kämpfe nun in russischer Region Belgorod

«Terroristen» vernichtet

Ukrainische Soldaten fahren mit Panzerfahrzeugen auf einer Straße zu ihren Stellungen in der Nähe von Bachmut in der Region Donezk. Foto: Efrem Lukatsky/Ap/dpa
Ukrainische Soldaten fahren mit Panzerfahrzeugen auf einer Straße zu ihren Stellungen in der Nähe von Bachmut in der Region Donezk. Foto: Efrem Lukatsky/Ap/dpa

BELGOROD: Neben seinem Krieg gegen die Ukraine muss Russland nun erstmals in großem Stil gegen Kämpfer auf eigenem Staatsgebiet in Grenznähe vorgehen. Die Aufregung in Moskau ist groß über den «Terror». Kiew weist jede Verantwortung zurück - nicht ohne Häme.

Nach blutigen Angriffen in der russischen Region Belgorod an der Grenze zur Ukraine ist Moskau in seinem Krieg gegen das Nachbarland nun zur Gegenwehr auf eigenem Staatsgebiet gezwungen. Das russische Verteidigungsministerium meldete am Dienstag, angreifende Truppen im Gebiet Belgorod «blockiert und zerschlagen» zu haben. Dazu veröffentlichte das Ministerium ein Video, das Luftschläge gegen die Eindringlinge bei der so bezeichneten Anti-Terror-Operation zeigen soll. «Mehr als 70 ukrainische Terroristen, vier gepanzerte Fahrzeuge und fünf Geländewagen wurden vernichtet», sagte Militärsprecher Igor Konaschenkow am Dienstag.

Neben dem Grenzschutz seien auch Luftwaffe und Artillerieeinheiten zur Bekämpfung der Eindringlinge eingesetzt worden, sagte Konaschenkow in Moskau. Unabhängig lassen sich die Angaben nicht überprüfen. Besonders betroffen war allerdings die Stadt Graiworon, die an das ukrainische Gebiet Sumy grenzt. Der Gouverneur von Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, sprach von zwölf verletzten Zivilisten durch den Beschuss. Viele Menschen seien geflohen. Ukrainische Kämpfer hätten auf Graiworon und andere Dörfer in der Nähe mit Granatwerfern und Artillerie gefeuert. «Schäden wurden an 29 Häusern festgestellt und an drei Autos», sagte er.

Die an der Grenze zur Ukraine gelegenen russischen Regionen - neben Belgorod etwa auch Kursk und Brjansk - klagen immer wieder über Beschuss aus dem Nachbarland. Es gab bereits Tote und Verletzte sowie schwere Schäden - allerdings nichts Vergleichbares mit der Zerstörung und dem Blutvergießen durch den russischen Angriffskrieg im Nachbarland. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte stets betont, dass seine Truppen kein russisches Staatsgebiet angriffen, sondern lediglich besetzte Territorien befreiten.

Das russische Verteidigungsministerium machte hingegen einmal mehr die Ukraine für die seit Kriegsbeginn vor 15 Monaten bisher beispiellosen Attacken verantwortlich, nannte aber keine Verluste in den eigenen Reihen. Es handele sich um eine «Antwort des Kiewer Regimes auf die Niederlage in Artjomowsk», behauptete Ministeriumssprecher Konaschenkow. In Moskau wird die ukrainische Stadt Bachmut nach ihrem vorherigen Namen Artjomowsk benannt.

Russland hatte am Wochenende die Einnahme der seit Monaten schwer umkämpften und inzwischen völlig zerstörten Stadt verkündet. Kiew dementiert dies und hat nach eigenen Angaben weiter einen kleinen Teil im Südwesten der Stadt unter seiner Kontrolle.

Der Kreml in Moskau zeigte sich «tief besorgt» wegen der Lage in Belgorod. Kremlsprecher Dmitri Peskow nutzte den Anlass der «Sabotage ukrainischer Kämpfer gegen Russland» aber auch, um einmal mehr Moskaus Krieg gegen die Ukraine zu verteidigen. «Es verlangt von Russland große Anstrengungen, die militärische Spezialoperation wird fortgesetzt, um solche Vorfälle nicht mehr zuzulassen», sagte er. Zuvor hatte Peskow auch gesagt, dass die Ukraine mit der Operation von ihrer Niederlage in Bachmut ablenken wolle.

Dagegen wies die Ukraine zurück, etwas mit den Angriffen zu tun zu haben. In Kiew wurde darauf hingewiesen, dass sich aus russischen Staatsbürgern bestehende Freiwilligenkorps zu den Angriffen bekannt hätten. Tatsächlich gibt es Russen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen, es galt aber als unwahrscheinlich, dass sie in der Zahl und mit solcher Ausrüstung ohne Hilfe agieren könnten.

In Kiew reagierte der Berater des Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, bei Twitter wie bei ähnlichen Zwischenfällen in Russland in der Vergangenheit mit Häme. Russland könne es ja als Sieg verkaufen, seine eigenen Staatsgebiete zu verteidigen, meinte er. Das «russische Regime» solle mal über die Realität nachdenken: «Je eher sie alle Gebiete der Ukraine verlassen, desto weniger Katastrophe wird Russland am Ende selbst erleben», schrieb er.

Mit neuer Kritik am russischen Machtapparat meldete sich zudem der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, angesichts der Kämpfe in der Region Belgorod. Statt sich mit der Sicherheit des Staates und seiner Grenzen zu beschäftigen, verschleuderten die Beamten öffentliche Gelder. «Es gibt keine Führung, kein Verlangen und keine Persönlichkeiten, die bereit sind, unser Land zu schützen», ätzte Prigoschin. Er habe schon mehrfach auf die Gefahrensituation in den Regionen hingewiesen und gefordert, mehr für die Grenzsicherung zu tun.

Der ebenfalls für seine scharfen Ausfälle gegen die Moskauer Militärführung bekannte frühere russische Geheimdienstoffizier Igor Girkin sieht in den Angriffen auf russischem Gebiet vor allem ein «Ablenkungsmanöver des Gegners», um die seit langem geplante Großoffensive zu beginnen. Ziel der Ukraine sei es, Russland dazu zu bringen, mehr Ressourcen zum Schutz des eigenen Staatsgebiets aufzuwenden, meinte der Ultranationalist, der auch unter seinem Kampfnamen Strelkow bekannt ist.

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow meinte, dass nun der Druck auf die russische Führung weiter wachse, endlich richtig loszulegen mit dem Krieg gegen die Ukraine. Kremlchef Wladimir Putin selbst hatte einmal gesagt, dass Russland noch nicht einmal ernsthaft begonnen habe. Vor dem Hintergrund der Kämpfe im Gebiet Belgorod sei es nun auch leichter für Putin, eine neue Welle der Mobilmachung anzuordnen. «Putin, es muss härter werden, brutaler! Das wird nun die laute Forderung des Volkes», meinte Markow.

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