Journalistin bei «terroristischem Vorfall» in Nordirland erschossen

Foto: epa/Joe Boland / NORTH WEST NEWSPIX
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LONDONDERRY (dpa) - Friedlich sieht der britische Landesteil Nordirland aus: Bauernhöfe, grünes Hügelland, Kühe und Schafe. Doch es brodelt, auch wegen des Brexits. Bei gewaltsamen Ausschreitungen gab es nun ein Todesopfer.

Unruhen auf der Grünen Insel: Bei gewaltsamen Ausschreitungen ist in der nordirischen Stadt Londonderry eine Journalistin mit einem Kopfschuss getötet worden. Der Tod der 29-Jährigen im Wohngebiet Creggan am Stadtrand sei wohl ein «terroristischer Vorfall», teilte die Polizei am Freitag mit.

Die Polizei leitete Mordermittlungen ein. Sie vermutet, dass hinter der Tat eine militante Republikaner-Gruppe namens Neue IRA stecken könnte. «Das ist nicht nur eine Attacke auf eine junge Frau, sondern gegen die Bürger dieser Stadt», sagte ein leitender Polizist. Auf einer Pressekonferenz am Nachmittag berichtete die Polizei, dass für den Mord an der Journalistin sicherlich mehrere Personen verantwortlich seien.

Das abgelegene Nordirland, in dem jahrzehntelang ein Bürgerkrieg wütete, gehört zu Großbritannien. Politiker sowohl aus dem Vereinigten Königreich als auch Irland verurteilten die Tat scharf.

In Creggan wurden am späten Donnerstagabend mehr als 50 Brandsätze auf Polizisten geschleudert. Ein Unbekannter soll Schüsse abgefeuert haben, von denen Augenzeugen zufolge einer die Journalistin traf. Auf Bildern vom Tatort waren brennende Autos, gepanzerte Einsatzfahrzeuge der Polizei und schwer bewaffnete Sicherheitskräfte zu sehen.

Auslöser für die Krawalle könnte der jährliche Protest an Ostern im Zusammenhang mit dem Nordirland-Konflikt gewesen sein. Die neuen Unruhen trugen sich zu einem Zeitpunkt zu, an dem irisch-katholische Nationalisten an den Aufstand gegen die Briten im Jahr 1916 erinnern.

Die britische Premierministerin Theresa May sprach von einer «schockierenden und wahrlich sinnlosen» Tat. Die Journalistin Lyra McKee habe ihre Arbeit mit großem Mut ausgeübt.

Der irische Premierminister Leo Varadkar teilte in Dublin mit: «Wir können nicht jenen erlauben, die Gewalt, Angst und Hass verbreiten, uns in die Vergangenheit zurückzuziehen.»

Die Chefin der nordirischen Partei DUP, Arlene Foster, nannte die Tat «sinnlos». «Diejenigen, die in den 70er, 80er und 90er Jahren Schusswaffen in unsere Straßen gebracht haben, lagen falsch. 2019 ist es auch falsch.» Die DUP unterstützt Mays Minderheitsregierung.

Auch der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, zeigte sich betroffen von der Tat. «Wir sind erschüttert und fordern rasche Aufklärung und konsequente Strafverfolgung», sagte Mihr der Deutschen Presse-Agentur am Freitag. «Der Fall zeigt, wie gefährlich die Arbeit für Journalistinnen und Journalisten auch in vermeintlich sicheren Ländern geworden ist.»

In Nordirland sind paramilitärische Gruppierungen auch mehr als 20 Jahre nach dem friedensstiftenden Karfreitagsabkommen aktiv. Sie agieren wie ein Staat im Staat und finanzieren sich unter anderem durch Drogenhandel. Die bewaffnete Gruppen erhoffen sich von einem Wiederaufflammen des Konflikts neue Legitimation und Geld.

Befürchtet wird, dass im Zuge des bevorstehenden Brexits die Gewalt zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland bei Einführung von Grenzkontrollen wieder aufflammen könnte.

Die EU-Kommission reagierte besorgt auf den jüngsten Vorfall: «Wir verurteilen solche Gewalt und sind zuversichtlich, dass die britischen Behörden die genauen Umstände dieses tragischen Vorfalls aufklären werden», erklärte ein Sprecher der Brüsseler Behörde. Der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei für die Europawahl, Manfred Weber, erklärte auf Twitter: «Dieser besorgniserregende Anstieg der Gewalt in Nordirland ist auch eine Warnung an uns: Wir müssen alles tun, um den Frieden in Nordirland und das Karfreitagsabkommen trotz des Brexits zu sichern.»

Seit Jahresbeginn sind in Londonderry wiederholt Sprengsätze explodiert, ohne dass es dabei Verletzte gegeben hätte. Einer davon detonierte im Januar vor einem Gericht mitten in der Stadt, nachdem kurz zuvor eine Warnung bei den Behörden eingegangen war.

Im Bürgerkrieg starben etwa 3.700 Menschen, 50.000 wurden verletzt und 500.000 gelten in dem Landesteil als psychisch traumatisiert. In dem über Jahrzehnte währenden Konflikt standen katholische Nationalisten, die eine Vereinigung mit Irland anstreben, protestantischen Unionisten gegenüber, die weiter zu Großbritannien gehören wollen.

Traurige Berühmtheit erlangte Londonderry durch den sogenannten Blutsonntag. Britische Fallschirmjäger erschossen am 30. Januar 1972 - dem «Bloody Sunday» - dort 13 katholische Demonstranten. Ein weiterer starb Monate später an seinen Verletzungen. Als Folge verschärfte sich der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten. Aus Rache verübte die irisch-republikanische Untergrundorganisation IRA mehrere Anschläge. Wandgemälde an Häusern erinnern an den Blutsonntag.

Die Zerrissenheit der Stadt wird schon beim Namen deutlich. Londonderry ist der offizielle britische Name. Die meisten der etwa 85.000 Einwohner sind aber Katholiken. Sie nennen die Stadt Derry.

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