Johnson trotzt verheerendem «Partygate»-Bericht

Der britische Premierminister Boris Johnson und Kanzler Rishi Sunak vor der Downing Street in London. Foto; epa/ANDY RAIN
Der britische Premierminister Boris Johnson und Kanzler Rishi Sunak vor der Downing Street in London. Foto; epa/ANDY RAIN

LONDON: Einen «Katalog der Kriminalität» nennt die Opposition den 37 Seiten starken Untersuchungsbericht zum «Partygate»-Skandal. Premier Johnson kündigt an, die volle Verantwortung zu übernehmen. Klingt nach Rücktritt? Weit gefehlt.

Alkoholgeschwängerte Feiern bis in die Frühe, Rotweinflecken an der Wand - und Bilder des Premierministers, der Partygästen zuprostet. Mit zahlreichen Details, die Downing Street wie eine Parallelwelt während des strengen Corona-Lockdowns wirken lassen, zeigt der Untersuchungsbericht zur «Partygate»-Affäre ein erschreckendes Ausmaß an Verantwortungslosigkeit im Herzen der britischen Regierung auf. Auch Premierminister Boris Johnson zeigte sich entsetzt darüber, welche Verstöße gegen die Corona-Regeln in seinem Amtssitz geduldet wurden.

Der konservative Politiker kündigte zwar an, die volle Verantwortung zu übernehmen. Allerdings schloss er einen Rücktritt aus und distanzierte sich von den Ereignissen. Mehr noch, der 57-Jährige sagte, er fühle sich von dem Bericht der Spitzenbeamtin Sue Gray reingewaschen. Denn der Report enthält keine neuen Vorwürfe gegen Johnson, der wegen eines Events bereits mit einer Geldstrafe belegt wurde - als erster amtierender Premierminister der Geschichte.

Grundsätzlich aber wirft der Bericht der politischen Führung um Johnson schweres Fehlverhalten vor und legt klare Verstöße gegen die Corona-Regeln offen. Die interne Ermittlerin Gray zitiert Mails und Chatnachrichten, die belegen, dass den Mitarbeitern die Regelbrüche bewusst waren. So resümierte Johnsons damaliger Büroleiter Martin Reynolds nach einer Feier: «Wir sind damit offenbar davongekommen.» Vor einer anderen Festivität wies ein Berater Reynolds darauf hin, dass zur Zeit der Zusammenkunft eine Pressekonferenz ende. Mitarbeiter sollten daher bitte «nicht mit Weinflaschen winken».

Das alles habe er nicht gewusst, sagte Johnson. Ja, er habe kurz bei Treffen vorbeigeschaut, um seinen hart arbeitenden Mitarbeitern zu danken. Nun müsse er feststellen: «Einige dieser Zusammenkünfte dauerten länger als notwendig und waren eindeutig ein Regelbruch.» Daher nehme er seine Aussage zurück, es seien stets alle Regeln befolgt worden. Gelogen aber habe er nie. Als es zu Fehlverhalten kam, sei er schon weg gewesen - oder gar nicht erst im Haus.

Manches, was Gray auf den 37 Seiten aufführt, ist schwer zu glauben. Da ist die Rede von schweren Alkoholexzessen, eine Person musste sich übergeben, zwei andere hatten «eine kleine Auseinandersetzung». «Man kann die Menge des Alkohols fast riechen, die bei diesen Partys in der Regierung getrunken wurden, als Partys verboten waren», kommentierte BBC-Korrespondent Chris Mason.

Die BBC berichtete unter Berufung auf Augenzeugen, der Premier selbst habe Alkohol eingeschenkt. Regelmäßig sei per E-Mail zu «Wine Time Fridays» geladen worden. Dabei seien manchmal die Räume so voll gewesen, dass sich einige bei anderen auf den Schoß setzen mussten. Zu einer Abschiedsfeier habe die damalige Chefin der Ethik-Abteilung eine Karaoke-Anlage mitgebracht.

Für die Ermittlerin steht fest, wer die Schuld an diesem Verhalten trägt: die politische Führung sowie die Chefs des Öffentlichen Diensts. «An den Veranstaltungen, die ich untersucht habe, nahmen Führungsfiguren der Regierung teil», schrieb Gray. «Viele dieser Events hätten nicht zugelassen werden dürfen.»

Trotz aller Dementis: Für die Opposition ist Johnson das Gesicht der Affäre. Schließlich kam es in seinem Amtssitz zu Ausschweifungen, während die Menschen im Land weder Kranke besuchen noch sich von Sterbenden verabschieden durften. «Der Bericht legt die Fäulnis offen, die sich unter diesem Premierminister in der Downing Street Nummer 10 ausgebreitet hat», sagte Labour-Chef Keir Starmer. Wenn Johnson angesichts dieses «Katalogs der Kriminalität» nicht gehe, müsse seine Partei ihn hinauswerfen, forderte der Oppositionsführer.

Das sehen auch die meisten Briten so: In einer Yougov-Umfrage fordern 59 Prozent Johnsons Rücktritt. Doch der Premier verweist darauf, dass die wichtigsten Stellen in Downing Street bereits neu besetzt worden seien. Auch der oberste Regierungsbeamte Simon Case, den viele für die tolerierte Partykultur verantwortlich machen, bleibt im Amt.

Vielmehr ist offensichtlich, dass der Premier den Skandal hinter sich lassen will. «Boris Johnsons Partygate-Reue dauert ganze 30 Sekunden», kommentierte der Kolumnist John Crace im «Guardian». Dann blies Johnson wieder zur Attacke, von Demut keine Spur. Im Parlament griff er Starmer scharf an. Gegen den Oppositionsführer ermittelt die Polizei in der Stadt Durham, weil er während des Lockdowns nach einem Wahlkampfauftritt mit Mitarbeitern zu Abend aß und ein Bier trank. Der Labour-Chef hat für den Fall einer Geldstrafe seinen Rücktritt angekündigt - darüber machte sich Johnson, der sich nun frei von der Last der Affäre fühlte, lustig.

Selbst will der Premier nur nach vorne blicken. Unterstützung fand er bei Mitgliedern seiner Konservativen Partei. Eine Mehrheit der Tories ficht es offenbar nicht an, dass die Polizei mehr als 120 Strafbescheide an Dutzende Regierungsbeamte verteilte, dass Downing Street damit «die am schwersten bestrafte Straße des Landes» wurde. Nur zögerlich regen sich Gegenstimmen. Seit Erscheinen des Berichts haben drei Parteikollegen öffentlich Johnson ihre Unterstützung entzogen - insgesamt sind es nach Zählung des Senders Sky News nun 18. Sprechen sich 54 der 359 Tory-Abgeordneten gegen Johnson aus, kommt es zu einem parteiinternen Misstrauensvotum.

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