Historischer Kurswechsel der Sicherheitspolitik

Tägliches Leben in Tokio, Japan. Foto: epa/Tatyana Zenkovich
Tägliches Leben in Tokio, Japan. Foto: epa/Tatyana Zenkovich

TOKIO: Japan verliert das Herzstück seiner Nachkriegsidentität: Angesichts der Spannungen in Ostasien stockt das Land die Verteidigungsausgaben massiv auf und verschafft sich erstmals Waffen für einen «Gegenschlag». China sei die «größte strategische Herausforderung».

Japan reagiert mit einer massiven militärischen Aufrüstung auf das Machtstreben Chinas und die Bedrohung durch Nordkorea. Die Regierung von Ministerpräsident Fumio Kishida beschloss am Freitag eine historische Änderung der japanischen Sicherheitsstrategie: In Abkehr von der bislang ausschließlich auf Verteidigung ausgerichteten Sicherheitsdoktrin will sich der US-Verbündete künftig in die Lage versetzen, feindliche Raketenstellungen auszuschalten. Rund 43 Billionen Yen (297 Milliarden Euro) will Japan über die nächsten fünf Jahre für Verteidigung ausgeben. Der Wehretat soll sich statt bisher auf ein künftig auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts belaufen.

Der Kurswechsel geschieht angesichts eines Sicherheitsumfelds, das die Regierung als das «ernsteste und komplizierteste» seit dem Zweiten Weltkrieg beschreibt. Das militärische Auftreten Chinas in der Region stelle «die größte strategische Herausforderung» aller Zeiten dar, heißt es in dem neuen Sicherheitspapier. Ähnlich formuliert es auch Japans Schutzmacht USA. Nach Einschätzung von Sicherheitsexperten zeigt die neue Verteidigungsstrategie, wie besorgt Japan über Chinas zunehmendes militärisches Machtstreben ist.

So wird in Japan befürchtet, dass China in ähnlicher Weise wie Russland mit der Ukraine eines Tages nach dem demokratischen Taiwan greifen könnte. Sorge bereitet auch die nahezu ständige Präsenz von Schiffen der chinesischen Küstenwache in Gewässern um die Inselgruppe der Senkaku im Ostchinesischen Meer, die von Japan kontrolliert, aber auch von China sowie von Taiwan beansprucht wird. Japan lege offenbar mehr Wert darauf, Chinas Ambitionen zu vereiteln, seine militärische Präsenz in nahe gelegenen Gewässern zu stärken, als sich gegen Nordkoreas Raketen- und Atomwaffenbedrohungen zu schützen, schrieb die japanische Nachrichtenagentur Kyodo unter Berufung auf Experten.

Japans Ministerpräsident Fumio Kishida habe eine «neue Ära in der Verteidigung der Demokratie eingeläutet», schrieb US-Botschafter Rahm Emanuel am Freitag. Kishida habe eine «klare, unmissverständliche strategische Erklärung zur Rolle Japans als Sicherheitsanbieter im Indopazifik» abgegeben. Mit zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung würde Japan laut Medien gemessen am heutigen Stand künftig über den drittgrößten Militäretat der Welt nach den USA und China verfügen.

Zentraler Punkt der neuen Sicherheitsstrategie ist die so genannte «Gegenschlagfähigkeit». Japan kann demnach unter drei Bedingungen einen Gegenschlag starten: wenn Japan angegriffen wird oder ein Angriff auf eine befreundete Nation Japans Überleben bedroht; es keine geeigneten Mittel gibt, um einen Angriff abzuwehren und solange sich der Einsatz von Gewalt auf ein Minimum beschränkt. Dies sei «unverzichtbar», um Raketenangriffe abzuwehren, erklärte Kishida. Unter anderem will Japan Marschflugkörper der Schutzmacht USA kaufen.

Eine Raketenabwehr allein reiche nicht mehr aus, um mit der «erheblichen Verstärkung» der Raketenarsenale von Ländern wie China und Nordkorea fertig zu werden, so die japanische Regierung. Inwieweit der Besitz von Waffen zum «Gegenschlag» jedoch abschreckend wirken kann, ist ungewiss. Die Regierung in Tokio betont, man halte auch weiterhin an einer ausschließlich auf Selbstverteidigung ausgerichteten Politik fest. Japan werde nicht zu einer Militärmacht.

Im Ernstfall Raketenstellungen auf feindlichem Territorium auszuschalten, betrachtet Japan schon länger als zulässigen Akt der Selbstverteidigung und daher im Einklang mit der pazifistischen Nachkriegsverfassung. Doch angesichts des atomaren Schutzschildes der USA hatte Japan bislang darauf verzichtet, sich mit eigenen Waffen hierzu in die Lage zu versetzen. Dies soll sich jetzt ändern.

Die neue Sicherheitsstrategie baut auf den Reformen des kürzlich ermordeten Ex-Premiers Shinzo Abe auf. Der Rechtskonservative hatte unter anderem 2015 umstrittene Sicherheitsgesetze durchgesetzt, die Kampfeinsätze der japanischen «Selbstverteidigungsstreitkräfte» im Ausland ermöglichen. Damit hat Japan das Recht zur «kollektiven Selbstverteidigung» erhalten und darf künftig in Konflikten an der Seite der USA kämpfen, selbst wenn es nicht direkt angegriffen wird.

Kritiker beklagten, damit sei die pazifistische Nachkriegsverfassung zur Makulatur geworden. Es kam damals zu den größten Massenprotesten seit fünf Jahrzehnten. Diesmal jedoch blieben Massenproteste aus. Seine Regierung werde angesichts eines «Wendepunkts der Geschichte» die eigene «Nation und das Volk verteidigen», versicherte Kishida.

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