Ist das Glas halbvoll oder halbleer?

Ist das Glas halbvoll oder halbleer?

Carlos entscheidet sich stets für die erste Variante, denn er ist ein unverbesserlicher Optimist. Das heißt aber nicht, dass er über allgegenwärtige Missstände hinwegsieht. Er sieht diese Eigenschaften ebenso bei seinen europäischen Landsleuten wie bei den Thais, in deren Mitte er lebt. Und – um gleichzeitig auf viele Leserbriefe einzugehen – er fühlt sich nicht im Geringsten als Moralapostel, denn dazu hat er weder die Kompetenz noch den persönlichen Drang. Carlos ist nur eingeladen worden, im FARANG seine Meinung zu Themen zu sagen, die allgemein interessieren. Und das tut er gern.

Seit Tagen hat das Thema "Sarrazin" – mit einiger Verspätung – die Farangs in Pattaya erreicht. Dieser Herr Sarrazin, SPD-Mitglied, vorher Mitglied des Berliner Senats, zuletzt im Vorstand der Bundesbank, hat ein Buch herausgebracht unter dem Titel "Deutschland schafft sich ab". In diesem Buch versucht er zu beweisen, dass die in Deutschland eingewanderten Türken und Muslime in kürzester Zeit die Macht in Deutschland übernehmen werden. Er tut dies in einer sehr provokanten Art. Das offizielle und politische Deutschland geißelt ihn dafür, während viele Leute auf der Straße seine Ansichten teilen. Die SPD will ihn ausschließen, die Bundesbank will ihn loswerden und zahlreiche NPD-Verbände haben ihm die Mitgliedschaft angeboten.

Carlos hat dieses Buch von Thilo Sarrazin noch nicht gelesen. Alles was er weiß, hat er durch die Medien erfahren. Er versucht, sich ein Urteil zu bilden und kommt zu dem Schluss, dass dieser Herr Sarrazin Probleme, die wirklich vorhanden sind und dringend gelöst werden müssen, so zugespitzt hat, dass man ihn nicht mehr ernst nehmen kann. Er macht sich zum Kasper mit unhaltbaren gen-biologischen Aussagen, und das ist schade, denn eigentlich hat er einen Finger in die Wunde gelegt, die dringend einer politischen Lösung bedarf.

Ohne Einwanderer sähe es traurig aus

Noch vor Tagen hörte man an den Stammtischen in Pattaya: "Dieser Mann ist doch verrückt!" Inzwischen hat sich das Blatt gewendet: "Der Mann hat doch Recht! Raus mit diesen Ausländern aus Deutschland, die sich nicht anpassen wollen, die kein deutsch sprechen und es nur auf unsere Sozialhilfe abgesehen haben. Die produzieren Kinder am Fließband und werden bald die Macht und die Mehrheit in Deutschland übernehmen. Unsere abendländisch-christliche Kultur steht vor dem Untergang."

Carlos, sonst ein gern gesehener Gast an diesen Stammtischen, wagt einen Einspruch: "Klar, es gibt absolut Defizite bei der Einwanderung, bei der Betreuung und Integration, aber ohne diese Einwanderer sähe es in Deutschland traurig aus. Wir brauchen dringend …"

"Red‘ doch keinen Scheiß, Carlos, das sind doch alles Idioten, die in ihrer Heimat nicht zurechtkommen, alles Arschlöcher, auf die wir gerne verzichten können."

Carlos versucht es mit Zahlen und Statistiken. Erfolglos. Er ist hoffnungslos allein.

"Das sind alles Kriminelle, Dumpfbacken. Sarkozy hat schon Recht, wenn er die Roma abschiebt. Das sollte die Merkel mit den Türken auch machen. Deutschland den Deutschen!"

Haben sich Expats assimiliert?

Moment mal, denkt Carlos, wo bin ich denn hier? Ich bin in Thailand. Um mich herum sitzen Deutsche, Schweizer und Österreicher, geduldete Ausländer, die sich das Maul zerreißen über Ausländer in Deutschland und dabei offenbar vergessen haben, dass sie selbst Einwanderer in Thailand sind. Okay, auf Hartz 4 können sie hier nicht hoffen, aber haben sie einmal darüber nachgedacht, wie sehr sie die Kultur dieses Landes verändert haben?

Sprechen sie Thai? Haben sie sich assimiliert?

Thailand war mal sehr stolz darauf, niemals kolonialisiert gewesen zu sein. Der Tourismus hat diesen Stolz zunichte gemacht. In den Touristen-Zentren haben die Sitten und Gebräuche der Okkupanten Einzug gehalten. Vom alten Thailand ist kaum noch etwas zu spüren.

Und wie sagte Schorsch noch gestern Abend am Stammtisch: "Wir bringen diesen Affen doch nur unsere Kultur bei."

Carlos meint, es wäre besser, Affen wie Schorsch in den Zoo zu sperren.

Aber unabhängig davon bleibt er dabei: Das Glas ist halbvoll.

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