Israel am Scheideweg

Dritte Wahl binnen eines Jahres

Foto: epa/Abir Sultan
Foto: epa/Abir Sultan

TEL AVIV (dpa) - Schon seit einem Jahr hat Israel keine demokratisch legitimierte Regierung. Zwei Wahlen brachten keine neue Koalition. Kann der dritte Urnengang das Land aus der lähmenden Pattsituation befreien?

Es ist einmalig in Israels Geschichte: Schon zum dritten Mal binnen eines Jahres gehen die Bürger am Montag an die Urnen, um ein neues Parlament zu wählen. Und wieder wird ein sehr knappes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem rechtskonservativen Regierungschef Benjamin Netanjahu (Likud) und seinem Herausforderer Benny Gantz vom Mitte-Bündnis Blau-Weiß erwartet. Zweimal ergaben Wahlen im letzten Jahr ein Patt zwischen dem rechts-religiösen und dem Mitte-Links-Block. Sowohl Netanjahu als auch Gantz scheiterten bei der Regierungsbildung. Gelingt es diesmal, eine Koalition zu schmieden? Oder kommt es in diesem Jahr sogar noch zu einer vierten Wahl?

Seit dem letzten Urnengang im September gab es zwei dramatische Entwicklungen, die sich auf die neue Abstimmung auswirken könnten: US-Präsident Donald Trump hat am 28. Januar seinen lange angekündigten Nahost-Plan veröffentlicht, der Israel unter anderem die Annektierung seiner Siedlungen im besetzten Westjordanland sowie des Jordantals erlaubt. Und am selben Tag kam ein zweiter Paukenschlag: Israels Generalstaatsanwalt reichte bei Gericht die Korruptionsanklage gegen Netanjahu ein - die erste gegen einen amtierenden Ministerpräsidenten in Israels Geschichte.

Netanjahu spricht von einer Hexenjagd gegen ihn und seine Familie und strebt trotz der Vorwürfe eine fünfte Amtszeit als Regierungschef an. Er war bereits von 1996 bis 1999 Ministerpräsident. Seit 2009 ist er durchgängig im Amt, schon seit mehr als einem Jahr regiert er das Land allerdings an der Spitze einer Übergangsregierung.

Mit dem Trump-Plan, den er als «Gelegenheit des Jahrhunderts» einstufte, kann Netanjahu vermutlich bei israelischen Wählern punkten. Dagegen dient der Korruptionsprozess seinen Gegnern als schwere Munition. Die erste Sitzung des Gerichts in Jerusalem ist nur zwei Wochen nach der Abstimmung angesetzt. Sollte der 70-Jährige wieder Ministerpräsident werden, «würde das Verfahren seine Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit schwer beeinträchtigen», glaubt Menachem Klein, Politikprofessor an der Universität Bar Ilan bei Tel Aviv. «Er müsste gleichzeitig regieren und vor Gericht erscheinen.»

Wenn man den Umfragen Glauben schenken kann, haben die Korruptionsvorwürfe Netanjahus Beliebtheit aber bisher nicht schwer geschadet. Wochenlang hatte demnach zwar das Mitte-Bündnis von Gantz im Rennen knapp die Nase vorn. Doch zuletzt hat sich der Trend sogar gewendet - und Netanjahus Likud liegt mit 33 von 120 Sitzen im Parlament ein Mandat vor Blau-Weiß. 44 Prozent der Befragten hielten Netanjahu laut einer TV-Umfrage für den besseren Kandidaten für das Amt des Regierungschefs, Gantz kam dabei nur auf 30 Prozent. Die beiden Blöcke können aber weiterhin jeweils nur mit etwa 56 Sitzen rechnen - nicht genug für eine Mehrheit.

Experte Klein sieht den ultrarechten Ex-Verteidigungsminister Avigdor Lieberman wieder als Zünglein an der Waage. Als Königsmacher habe er die Macht, Israel aus der lähmenden Pattsituation zu erlösen. Nach den vorherigen Wahlen hatte Lieberman sich noch für eine große Koalition von Likud und Blau-Weiß starkgemacht. Gantz bekräftigte jedoch, er werde kein Bündnis mit dem Likud eingehen, solange mit Netanjahu ein Angeklagter an dessen Spitze stehe. Lieberman gehört zwar eigentlich zum rechten Lager, lehnt aber eine Koalition mit Netanjahus strengreligiösen Bündnispartnern ab - unter anderem wegen eines Streits um die Wehrpflicht. Die Hoffnung auf eine große Koalition scheint Lieberman aber inzwischen auch aufgegeben zu haben.

«Eine denkbare Lösung wäre eine Minderheitsregierung von Blau-Weiß und den linken Parteien mit Liebermans Israel Beitenu, die von den arabischen Parteien von außen gestützt wird», sagt Klein. «Diese könnte vorübergehend regieren, bis der Likud sich von Netanjahu trennt - danach wäre dann eine große Koalition möglich.»

Sollte Netanjahu jedoch trotz aller Widrigkeiten die Bildung einer rechts-religiösen Regierung gelingen, rechnet Klein mit einer raschen Umsetzung der weitreichenden Annexionspläne im besetzten Westjordanland. «Sie würden dies mit Zustimmung der US-Regierung tun, aber es wäre sehr problematisch.»

Vor allem mit Blick auf Netanjahus Palästinenserpolitik im letzten Jahrzehnt sieht der Politikprofessor einen «fortwährenden Verschleiß der demokratischen Werte Israels». Israel habe das Westjordanland de facto bereits annektiert, ohne den Palästinensern mehr Rechte zu geben, und die israelischen Araber seien Bürger zweiter Klasse im eigenen Land.

Seit mehr als einem Jahr regiert Netanjahu das Land an der Spitze eines Übergangskabinetts ohne neue demokratische Legitimierung. Die beispiellose Politkrise hat auch wirtschaftliche Auswirkungen. Bei der diesjährigen Wahl belaufen sich die Kosten allein für das Wahlkomitee nach Angaben des Finanzministeriums auf 392 Millionen Schekel (rund 105 Millionen Euro). Insgesamt kosten Israel die drei Wahlen binnen eines Jahres nach Angaben der Wirtschaftszeitung «Calcalist» 1,6 Milliarden Schekel (430 Millionen Euro). Dazu kommen die indirekten Kosten - ein arbeitsfreier Tag koste die israelische Wirtschaft etwa 1,5 Milliarden Schekel (400 Millionen Euro).

«Israels Wirtschaft ist zwar stark, aber die politische Ungewissheit tut ihr nicht gut», sagt die ehemalige israelische Zentralbankchefin Karnit Flug zu den Auswirkungen der Pattsituation. Besonders problematisch sei, dass es für das laufende Jahr keinen neuen Haushalt gebe. «Dies schadet vor allem den schwachen Bevölkerungsteilen», sagt Flug. Viele wichtige Hilfsprogramme könnten nicht neu genehmigt werden. Ohne neue Regierung könne Israel sich auch nicht angemessen um das Haushaltsdefizit kümmern, das sich 2019 auf 3,7 Prozent der Wirtschaftsleistung belief. Sollte die Pattsituation andauern und eine vierte Wahl notwendig werden, könnte dies auch dem Vertrauen in die Wirtschaft schaden, warnt Flug.

Netanjahu gilt als politischer «Zauberer», der auch in größter Not immer wieder ein Kaninchen aus dem Hut ziehen kann. Wird ihm das auch in diesem Jahr gelingen? Der Experte Klein rechnet damit, dass Netanjahu im Falle eines Wahlsiegs versuchen könnte, sich durch ein umstrittenes Immunitätsgesetz vor einer Haftstrafe zu retten. «Juristisch ist er in einer sehr schlechten Lage», sagt Klein. «Netanjahu wird alles unternehmen, damit er nicht ins Gefängnis gehen muss.»

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