Ins Brüsseler Getümmel

Von der Leyen vor dem Start

Foto: epa/Olivier Hoslet
Foto: epa/Olivier Hoslet

STRAßBURG (dpa) - Jetzt fehlt nur noch die letzte Zustimmung des EU-Parlaments, dann kann Ursula von der Leyen loslegen als Präsidentin der Europäischen Kommission. Sie geht mit Enthusiasmus zu Werke. Aber leicht wird es nicht.

Genau 134 Tage hatte Ursula von der Leyen zum Warmlaufen zwischen ihrer Wahl zur Präsidentin der Europäischen Kommission im Juli und der letzten Abstimmung des EU-Parlaments über ihr Team an diesem Mittwoch. Die Strecke war länger und holpriger als gedacht für die CDU-Politikerin, denn ein Veto des Parlaments gegen drei ihrer 26 Kommissare verhagelte ihr den pünktlichen Start zum 1. November. Nun dürfte aber alles in der Spur sein.

Selbst von der Leyens Kritiker rechnen mit einer Mehrheit für die 61-Jährige (gegen 12.00 Uhr) und mit ihrem Amtsantritt am 1. Dezember. Danach will die erste Frau an der Spitze der Brüsseler Exekutive sofort durchstarten. Von der Leyen hat schon für die ersten 100 Tage Großes versprochen: den Aufbruch in ein grünes, modernes und gerechtes Europa, das für alle besser funktioniert.

Doch beginnt sie ihr Mandat in einer heiklen Zeit kurz vor dem Brexit-Termin und in stürmischer Großwetterlage in etlichen EU-Staaten. Dass erstmals seit mehr als 50 Jahren wieder Deutschland die Kommissionsspitze stellt, wird ebenfalls kritisch beäugt. In den Hecken lauern Widersacher. Es wird nicht leicht für von der Leyen.

WAS VON DER LEYEN WILL

Die ehemalige Verteidigungsministerin pocht auf ein selbstbewusstes und geopolitisch starkes Europa zwischen den USA und China, ein Europa, das «die Sprache der Macht» lernt, wie sie jüngst in Berlin sagte. Eine echte Verteidigungsunion will sie und ein starke, verzahnte Rüstungsindustrie, eine vertiefte Währungsunion und eine digitalisierte Wirtschaft. In weiten Teilen ist ihr Programm aber rot-grün, mit ehrgeizigen Zielen beim Klimaschutz und dem Bekenntnis zu ur-sozialdemokratischen Anliegen wie Mindestlöhnen. Das alles läuft unter dem wolkigen Motto: ein Europa, das mehr erreichen will.

WOMIT ES LOSGEHEN SOLL

Das erste und vielleicht größte Projekt der neuen Kommission ist der «grüne Deal», der Europa bis 2050 zum «ersten klimaneutralen Kontinent» machen soll. Es ist ein gewaltiger Kraftakt, den von der Leyen im Eiltempo angehen will. Schon am 11. Dezember soll das Programm vorliegen. Dazu gehört eine Verschärfung des Klimaziels für 2030: Bis dahin sollen die Treibhausgase der EU um 50 bis 55 Prozent unter dem Wert von 1990 liegen. Zuständig für das Megathema ist der mächtige Kommissions-Vize Frans Timmermans.

WER VON DER LEYEN UNTERSTÜTZT

Von der Leyen wurde im Juni buchstäblich über Nacht Überraschungskandidatin der EU-Staats- und Regierungschefs für das mächtigste EU-Amt. Den Namen soll der französische Präsident Emmanuel Macron als erster in die Runde geworfen haben, aber auch Ungarns rechtspopulistischer Ministerpräsident Viktor Orban war begeistert von der siebenfachen Mutter, ebenso der rechtsnationale polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki. Seine PiS-Partei verhalf der Kandidatin bei der Wahl im Europaparlament mutmaßlich zur hauchdünnen Mehrheit von nur neun Stimmen. Von der Leyen betont ihren Rückhalt: «Alle Staats- und Regierungschefs haben mich gemeinsam nominiert.»

WO GEGNER LAUERN

Genau diesen Werdegang sehen Kritiker aber als Bürde. Das EU-Parlament wurde bei der Auswahl übergangen, die Spitzenkandidaten zur Europawahl ausgebootet. Das nehmen nicht nur etliche Abgeordnete bis heute übel, sondern dem Vernehmen nach auch Timmermans, der als Spitzenkandidat der Sozialdemokraten selbst Kommissionschef werden wollte und nur der Vize wurde. Es könnte ein Hauen und Stechen geben, mutmaßen einige in der EU-Kommission und im Parlament.

Für Gesetze wird sich von der Leyen zudem ihre Mehrheiten zusammenklauben müssen aus Christ- und Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen, Linken oder Konservativen. Die potenziellen Partner bleiben misstrauisch. «Ihre Überschriften hören sich gut an, aber der Teufel steckt im Detail», sagt zum Beispiel die Grünen-Fraktionschefin Ska Keller. Linken-Fraktionschef Martin Schirdewan meint, von der Leyen habe allen alles versprochen. «Jetzt soll sie mal liefern.» Und der SPD-Abgeordnete Udo Bullmann beklagt, von der Leyen sei «strukturell abhängig» vom Wohlwollen der EU-Staaten. Eine öffentliche Rüge ihres «Erfinders» Macron hat sie im Streit über den französischen Kommissionsposten schon eingesteckt.

WIE SIE ES ANGEHT

Von der Leyen gibt sich trotz allem gut gelaunt und energiegeladen. Als Tochter des damaligen EU-Beamten Ernst Albrecht selbst in Brüssel geboren, fühlt sie sich als Vollbluteuropäerin und wirft sich mit einer Mischung aus Enthusiasmus, Pathos und praktischer Vernunft in die neue Aufgabe. Statt einer Brüsseler Wohnung bezieht sie im Amtssitz Berlaymont ein 25 Quadratmeter großes Zimmer - das spare Sicherheitskosten und Zeit zur Anfahrt, rechnet sie vor. Doch zeigt sie sich, wie in ihrer langen Zeit als Ministerin in Berlin, nicht nur sehr diszipliniert, sondern auch kontrolliert. Vertrauen schenkt sie vor allem ihren nach Brüssel mitgenommenen langjährigen Mitarbeitern. Alle anderen werden aus ihr noch nicht ganz schlau.

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