Ich lese – also bin ich

Ich lese – also bin ich

In all dem Getöse, das uns umgibt, braucht jeder Mensch Momente, an denen er wieder zu sich kommt, Momente, an denen er wieder zu sich selbst findet. Dafür braucht man keine Yoga-Meditationen. Eine halbe Stunde lang allein auf einer Wiese liegen und in den Himmel schauen genügt, um wieder genug Kraft zu gewinnen und fit zu werden für die Aufgaben, die von uns verlangt werden.

Für mich galt und gilt, ein Tag an dem ich nicht gelesen habe, war und ist ein verlorener Tag. Die Erkenntnisse, die ich daraus gewinne, prägen bis heute mein Leben. Ich kam schon sehr früh zum Lesen und war Dauerbesucher in unserer Stadtbibliothek. Ich las alles, was mir vor Augen kam. Irgendwann bin ich wohl der Leiterin der Bibliothek aufgefallen. Sie wies meinem Lesebedürfnis den Weg. Nach dem deutschen Kanon folgten der russische, der französische, der englische und dann der amerikanische. Schon in der Schule hat diese Lektüre Spuren hinterlassen. Andere haben Fußball gespielt, ich habe gelesen und war meistens Klassenbes­ter, wenn es um Aufsätze ging. Mancher geht, um Ruhe zu finden, für einige Tage in ein Kloster. Stadtmenschen haben längst vergessen was Stille ist. Der Verkehr auf den Straßen und in der Luft macht sie krank und oft auch aggressiv. Ich habe immer einen ruhigen Ort gesucht, um zu lesen. Natürlich wurde dieser Impuls auch berufsentscheidend für mich: Studium, freier Autor, Redakteur beim ZDF und Gründer eines Kleinkunsttheaters. Alles in logischer Reihenfolge. Mein Vater, ein Handwerker, hätte es gerne gesehen, wenn ich in seine Fußstapfen getreten wäre, aber da gab es keine Chance. Mein Denken und Trachten wurde schon früh geprägt und gilt bis heute: Lesen, Schreiben und neue Erkenntnisse gewinnen.

Was das Fernsehen uns täglich vorführt ist oft lächerlich und stiehlt uns Lebenszeit. Das gilt natürlich für die meisten Medien, die mit knalligen Überschriften um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Und in der Regel haben sie damit ja auch Erfolg. Ihre größte Konkurrenz besteht in den technischen Geräten, mit denen heutzutage fast jedermann kommuniziert. Dass auch sie in die vorher beschriebene Kategorie gehören, ist für ihre Verbreiter bedeutungslos. Mit anderen Worten, ob der Konsument vorm Fernseher oder im Facebook verblödet spielt keine Rolle. Die Wenigen, die noch Bücher lesen, Bücher aus Papier, werden belächelt. Wenn ich diesen Kids erzählen würde, wie ich alt geworden bin, sie würden entweder staunen oder lachen: Ein Leben lang kein Auto. Ein Fernsehgerät erst mit dreißig Jahren, ein Computer erst mit sechzig. Jetzt ein schlichtes Mobile. Alle anderen Geräte sind mir fremd. Ich brauche sie auch nicht, weil ich mich lieber mit Freunden unterhalte, anstatt auf den Display eines iPhone zu starren. Die gesamte Unterhaltungsindustrie ist darauf ausgerichtet, unsere Zeit zu erwerben, denn damit lässt sich ein Vermögen machen. Und wir sind ja so leicht zu beeinflussen: „Da soll was sein!“ – „Nichts wie hin!“ – „Da ist was völlig Neues!“ – „Nichts wie hin!“ Wen wundert es denn noch, wenn – beispielsweise in meiner Heimatstadt – nur noch eine einzige Großbuchhandlung existiert. Irgendwann wird man ein gedrucktes Buch nur noch über das Internet beziehen können oder über das letzte Antiquariat in der Stadt. Ich, als alter Mann, bin noch gesund genug, um gedruckte Bücher, sogar ohne Brille, zu lesen. Neben tausenden Exemplaren, die ich schon gelesen habe, gibt es noch unzählige, die ich noch lesen will. Und danach landen sie bei interessierten Freunden. Um genug Zeit zum Lesen zu haben, sehe ich nur noch sehr wenige Fernsehsendungen, zum Beispiel die Nachrichten. Und damit fühle ich mich ausgefüllt und auf der Höhe der Zeit. Ebenso wie die junge Generation, nur mit dem Unterschied, dass die sich auf ihr technisches Spielzeug nebst ihren Apps verlassen muss. Ich werde mich jetzt der Lektüre eines Buches hingeben, einem fast 1.000-seitigen Roman von Hanya Yanugihara „Ein wenig Leben“. Ich habe bisher nur großartige Kritiken darüber gelesen. Dieser Roman wird mich für einige Tage in seinen Bann schlagen, mich in sich hineinziehen, mich teilhaben lassen an fremden Menschen, ihren Gedanken und Gefühlen. Ein guter Bekannter gestand mir, dass er Bücher, nachdem er sie gelesen hat, in den Müll wirft. Mein Entsetzen über diese Aussage konnte er nicht begreifen. Wie kann man fremde Welten – und jedes Buch offenbart eine fremde Welt – auf diese Weise entsorgen? Für mich nur vergleichbar mit der Bücherverbrennung der Nazis. Ich habe meinen Bekannten gebeten, mir seine gelesenen Bücher zu schenken, mit denen ich später auch anderen Freunden Freude bereiten werde.

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