Hotline gegen Polizeiwillkür

Aktivisten im russischen Protestsommer

Foto: epa/Maxim Shipenkov
Foto: epa/Maxim Shipenkov

MOSKAU (dpa) - Schlagstöcke, Polizeibus, Festnahmen: Das Katz- und Maus-Spiel mit den Behörden wiederholt sich für viele Moskauer jedes Wochenende aufs Neue. Aktivisten sind dabei die einzigen, die den Betroffenen in der prekären Situation helfen - auf eigene Gefahr.

Der Sommer in Moskau hat es in sich. An den Protestwochenenden klingelt das Telefon wie in einem Callcenter im Minutentakt, Schlaf gibt es an diesen Tagen kaum noch. Im Büro des schüchtern wirkenden Grigori Durnowo im Zentrum der russischen Hauptstadt geht es hektisch zu. Er ist einer der Köpfe hinter der Bürgerrechtsgruppe OWD-Info. Ihre Aufgabe: Festgenommene Demonstranten lokalisieren. Vor allem sorgen sie aber für Transparenz im Chaos der Polizeiwillkür. Denn die russischen Behörden sind besonders an den Protesttagen nicht für Offenheit bekannt.

Wer in Russland in diesen Tagen bei einer Demonstration der Opposition mitmarschiert, nimmt auch in Kauf, hinter Gittern zu landen. Es ist ein Protest für freie und faire Kommunalwahlen am 8. September, gegen den Kreml, gegen Korruption und Gewalt. Scheinbar willkürlich werden Menschen von Polizisten und Sondereinheiten wie Schwerverbrecher in vergitterte Polizeibusse gezerrt und harren dort stundenlang aus - ohne Ansage, wie es weiter geht. Am Ende landen sie in einem der rund 140 Moskauer Polizeireviere, die OWD heißen.

Nicht zufällig nennt sich deshalb die Aktivistengruppe, bei der auch Dutzende Juristen arbeiten, OWD-Info. Akribisch sammelt sie Informationen über das Vorgehen der Polizei. Ihre Arbeit ist inzwischen fester Bestandteil der russischen Menschenrechtsszene.

«Ich sitze im Polizeibus. Was soll ich tun?», lautet die erste Frage, wenn Demonstranten anrufen. OWD-Info hält Kontakt mit den Festgenommenen, überprüft ihre Daten und dokumentiert, wo genau sie hingebracht werden - und schickt dort ihre Juristen hin.

«Viele Eltern wissen zum Beispiel nicht einmal, dass ihre Kinder festgenommen wurden. Niemand kann ihnen helfen. Viele geraten in Panik», erzählt der ehemalige Journalist Durnowo der Deutschen Presse-Agentur. Er koordiniert an den hektischen Protesttagen die Hotline. Während die Behörden die Teilnehmerzahlen und auch die Festnahmen oft kleinreden, schauen die Zahlen von OWD-Info deutlich dramatischer aus. Sie gelten aber auch als die zuverlässigsten.

Durnowo zieht in diesem Sommer eine dramatische Bilanz: 1.373 Festnahmen am ersten Protestwochenende, 1.001 Menschen im Polizeitransporter am zweiten. Mehrere Hunderte gab es am dritten; Festnahmen bei kleineren Protestzügen in anderen Städten trieben die Zahlen weiter nach oben. Viele Festgenommene werden zwar schnell freigelassen, einigen droht aber eine jahrelange Haftstrafe.

OWD-Info sei keine Organisation, sondern eine mehr oder weniger lose Gruppierung junger Aktivisten, sagt Durnowo. Sie finanzierten sich vor allem durch Crowdfunding, werden auch von der Menschenrechtsbewegung Memorial und der EU-Kommission unterstützt.

Seit 2011 arbeiten die Aktivisten in einem Büro, das wie ein Start-Up aussieht. Es gibt bunte Sitzkissen, Flipcharts und in den Regalen stapeln sich Schokoriegel. Es liegt in einem unscheinbaren Backsteinhaus irgendwo im Moskauer Stadtzentrum. Die Adresse findet sich nirgends im Internet - mit Absicht. «Wir haben viele Feinde und könnten jederzeit selbst zur Zielscheibe werden», sagt Durnowo.

Manche Kollegen wollen in der Öffentlichkeit nicht über ihre Arbeit sprechen, manche hätten Angst, angegriffen zu werden, berichtet der 42-Jährige. Die Aktivisten dokumentieren nämlich auch rund um das Jahr umstrittene Gerichtsentscheidungen gegen Oppositionelle und Gängelungen von NGOs. «Viele nennen uns Nestbeschmutzer.»

Dass die vergangenen Wochen so ausgeartet sind, ist auch für die Aktivisten schockierend. «So etwas hat unsere Statistik schon lange nicht mehr gesehen», sagt eine Mitarbeiterin, die anonym bleiben will. Sie geht auch davon aus, dass die nächsten Wochen nicht ruhiger werden. Die Massenfestnahmen schreckten die Moskauer nicht ab, weiter auf die Straßen zu gehe. Sie sagt: «Man kann zusehen und nichts tun. Man kann aber auch der Welt zeigen: Seht her, was unser Staat mit friedlichen Demonstranten macht.»

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