Hoffen auf das Brexit-Land 

Wieso so viele den Ärmelkanal überqueren

Foto: Freepik
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CALAIS/DOVER: Steht man in Calais an der Küste, kann man das verheißene Land schon sehen: Großbritannien. Immer wieder wagen Hunderte Migranten eine gefährliche Reise über den Ärmelkanal, in der Hoffnung auf ein sicheres Leben. Doch am anderen Ufer sind sie nicht willkommen.

Eigentlich wollte Sahel schon längst in England sein, doch noch immer trennen ihn rund 40 Kilometer von britischem Boden. Zweimal schon hat er versucht, von der nordfranzösischen Hafenstadt Calais ins britische Dover zu gelangen, beide Male vergeblich. Erst diesen Morgen, so erzählt der 27-jährige Afghane, hätte er in einem Schlauchboot nach Großbritannien sitzen sollen. Doch die Polizei entdeckte die Migranten am Strand, nahm ihnen das Boot weg, schickte sie zurück.

Und so ging es für Sahel wieder in einen Randbezirk von Calais, wo einzelne Zelte auf verwahrlosten Feldern zwischen Büschen stehen, davor Wäsche auf der Leine und zahlreiche Menschen, die für Essen und Wasser Schlange stehen. Viele von ihnen sind blutjung, nach eigenen Angaben 16 oder 17 Jahre alt. Sie kommen aus Eritrea, dem Iran oder Afghanistan und alle wollen sie nach Großbritannien.

Die britische Küste ist von den Stränden in Calais aus deutlich zu sehen, doch ohne legale Möglichkeiten zur Überfahrt ist der Weg lebensgefährlich. Immer wieder rettet die französische Küstenwache in Seenot geratene Migrantinnen und Migranten aus kleinen Booten im Ärmelkanal, wo starke Winde oft tosende Wellen hervorbringen. Allein bis Ende vergangenen Monats waren es dieses Jahr knapp 16.000, deutlich mehr als in den vergangenen Jahren, wie Véronique Magnin von der Meerespräfektur für den Ärmelkanal und die Nordsee sagt.

Ein französisches Polizeiduo auf Patrouille schildert, wie sich viele nachts in den unübersichtlichen Dünen östlich des Hafens verstecken. 24 Stunden am Tag werde der Bereich mit Polizei, Helikoptern und Drohnen überwacht. Dennoch schafften es immer wieder Menschen, der engmaschigen Kontrolle zu entgehen. Die Polizistin zeigt erklärend auf die Dünen. Mehr als ein paar Meter reicht der Blick hier nicht. Auch Sahel wollte von den Dünen starten, bevor seine Gruppe entdeckt wurde. Nun wartet der Afghane auf ein neues Boot.

Doch längst nicht alle wollen auf kleinen Booten über das Meer. «Das ist nur etwas für Leute mit Geld», sagt Robel aus Eritrea. Die Kosten lägen bei 2500 Euro für ein etwa zehn Meter langes Boot, auf das 35 bis 50 Menschen gesetzt würden. Er selbst wolle mit der Fähre rüber. Nur wie, das wisse er nicht. Auch Sahel hatte es mit der Fähre probiert, saß versteckt in einem Lkw, als Spürhunde ihn entdeckten.

Der Journalist setzt große Hoffnungen in Großbritannien. Dort gebe es keinen Rassismus, ist er überzeugt, dafür bessere Jobchancen. Und er müsse keine neue Sprache lernen, nicht noch einmal ganz von vorne anfangen wie hier in Frankreich oder in Deutschland.

Weil Großbritannien nicht mehr Teil der Europäischen Union ist, droht ihm - einmal angekommen - auch nicht, gemäß dem Dublin-Abkommen nach Bulgarien oder Rumänien zurückgeschickt zu werden. Ein weiterer Pluspunkt, findet Sahel. Hassan, der über Italien aus Eritrea floh, erzählt, dass er wegen der EU-Regelungen in Frankreich sowieso keine Papiere bekommen könne. Für Sharouz sind die Vorstellungen vage. England sei für Iraner wie ihn einfach besser, sagt er. Dann zeigt er auf seinen Freund, bittet ihn den Mund aufzumachen. Die fehlenden Schneidezähne habe die kroatische Polizei ihm rausgeschlagen.

Doch das gelobte Land, von dem sich die Menschen ein besseres, sicheres Leben versprechen, tut alles, um dies zu verhindern. «Take Back Control of our Borders» (deutsch: «die Kontrolle über unsere Grenzen zurückgewinnen») lautet eines der Versprechen, mit dem die konservative britische Regierung ihren Anhängern den Brexit schmackhaft gemacht hat. Ein Versprechen, das sie nun nach dem EU-Austritt einlösen muss. Dass Tag für Tag Menschen unangemeldet auf Schlauchbooten Kurs auf die Küste nehmen, war dabei nicht eingeplant.

Einer jener Orte, an dem immer wieder Boote ankommen, ist das leicht verschlafene Örtchen Folkestone. Ein langer Kiesstrand mit gleichförmigen, bunten Strandhäuschen, in denen die englischen Anwohner ihr Morgen-Yoga absolvieren oder die Stühle für den Feierabend-Drink verstauen. Fragt man Bridget Chapman vom Kent Refugee Action Network nach einem Treffpunkt in ihrem Heimatort, schlägt sie vor, sich im Museum von Folkestone zu verabreden.

Chapman ist fasziniert von einem Gemälde von 1914, das eine Ankunftsszene an der Küste von Folkestone zeigt, kurz nachdem deutsche Truppen zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Belgien einmarschiert waren. Eine Viertelmillion Menschen seien damals innerhalb weniger Wochen angekommen - ganze 16.000 an einem einzigen Tag. «Die Regierung und die Medien reden heute immer von Rekordzahlen», sagt Chapman. «Ich gehe vor Wut an die Decke, wenn ich das höre.»

Mindestens 16.311 Menschen haben in diesem Jahr nach Angaben der britischen Nachrichtenagentur PA bereits in Booten den Kanal überquert. Nahe der Küste werden sie meist von der Küstenwache eingesammelt; an Land stellen sie Anträge auf Asyl. Da es schon zu diesem Zeitpunkt des Jahres knapp 8000 mehr sind als 2020, stellt die britische Regierung dies als Anstieg dar. Fakt ist aber: Insgesamt ist die Zahl der Asylanträge nach offiziellen Zahlen im ersten Halbjahr sogar im Jahresvergleich um vier Prozent gesunken. Es kommen mehr Menschen per Boot an - dafür aber weniger versteckt auf Lastwagen oder Zügen.

Premierminister Boris Johnson erklärte am Freitag nach einem Telefonat mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, man müsse «das Geschäftsmodell von Schmugglern brechen, die Leben aufs Spiel setzen». Die Innenministerin und Brexit-Hardlinerin Priti Patel spricht von einer Belastung des Asylsystems. Sie will die vollgepackten Boote am liebsten nach Frankreich zurückschicken, obwohl dies völkerrechtlich gar nicht möglich wäre. Auch mehr Geld für die französische Polizei machte sie locker und fantasierte darüber, zur Abschreckung künstliche Wellen im Ärmelkanal zu produzieren. An der Küste von Folkestone wird deutlich: Die Propaganda hinterlässt Spuren.

Ein 54-jähriger Mann aus Folkestone fragt: «Die sind doch sicher in Frankreich. Warum kommen sie hierher? Wahrscheinlich ist Großbritannien zu großzügig.» Er spricht von jungen Männern, die sich am Strand sitzend filmen oder im Supermarkt randalieren. Der Mann ist kein Brexiteer, hat sogar dagegen gestimmt, und meint: «Damit haben wir uns ins Bein geschossen.» Viele freundliche Worte findet der Engländer nicht für die Ankommenden. «Aber ich habe auch noch nie mit einem zusammengesessen, wir sehen ja nur die Nachteile.» Er könne sich schon vorstellen, anders zu denken, wenn er höre, dass jemand seinen Bruder verloren habe oder vor den Taliban aus Afghanistan geflohen sei. «Dann würde ich meine Arme öffnen.»

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