Heiliger Tag für Russland

9. Mai ist der 75. Jahrestag des Sieges über Hitler

Gebäude des Außenministeriums (C) in Moskau. Foto: epa/Yuri Kochetkov
Gebäude des Außenministeriums (C) in Moskau. Foto: epa/Yuri Kochetkov

MOSKAU: Eigentlich wollte Kremlchef Putin den 75. Jahrestag des Sieges über Hitler mit der größten Militärparade der Geschichte feiern - mit Gästen aus aller Welt. Wegen der Corona-Pandemie fallen die Feiern nun kleiner aus. Alte Wunden bleiben.

Mit den Kriegsorden an seinem Jackett kann der 98-jährige Nikolai Dupak den gefährlichsten Teil seines Lebens nicht vergessen. Zwei gelbe Balken für schwere Kriegswunden und einen roten für eine leichtere Verletzung im Kampf gegen die Deutschen. «Am Hals, an den Beinen und einer Hand wurde ich getroffen», sagt der Schauspieler im Ruhestand. Der Moskauer Kriegsveteran muss an diesem Samstag wie die wenigen anderen Überlebenden auf die Militärparade zum 75. Jahrestag des Sieges über den Hitler-Faschismus am 9. Mai 1945 verzichten - wegen der Corona-Pandemie.

Auf Bitten der Veteranen hat Kremlchef Wladimir Putin als Oberbefehlshaber der Atommacht die sonst von Hunderttausenden in Moskau bejubelte Waffenschau abgeblasen. Dabei sollte es für ihn das wichtigste politische Ereignis des Jahres werden.

Die Bilder mit Staats- und Regierungschefs aus aller Welt sollten seine Position als Weltpolitiker stärken nach außen, aber vor allem innenpolitisch, wie der Militärexperte Pawel Felgenhauer sagt. Am Tag des Sieges präsentiert Russland immer auch nukleare Interkontinentalraketen - zur Abschreckung. Das Land hatte 2019 nach den USA, China und Indien die vierthöchsten Militärausgaben weltweit: 65,1 Milliarden US-Dollar.

Für Russland ist der Tag des Sieges ein «heiliger Tag» - zur Erinnerung an die rund 27 Millionen Tote der Sowjetunion im «Großen Vaterländischen Krieg», wie der Zweite Weltkrieg hier genannt wird. Familien gedenken ihrer Angehörigen, legen rote Nelken an Denkmälern und Gräbern nieder. Vielerorts erklingen Kampflieder von damals.

Der Veteran Dupak wird wie die meisten Menschen in Moskau wegen der Corona-Ausgangssperren zu Hause bleiben müssen. Er lebt bei Tochter und Enkel - mit seinen Erinnerungen an die Sowjetunion unter ihrem Diktator Josef Stalin, der das Land mit den Alliierten Großbritannien und USA zum Sieg gegen Hitler führte.

«Allein hätten wir das nicht geschafft. Aber wenn es Stalin nicht gegeben hätte, dann gäbe es Russland und die anderen Länder heute nicht», sagt Dupak, während sein Telefon klingelt. Er hat ein Kampflied aus Kriegstagen als Klingelton, drückt das Gespräch weg - und entschuldigt sich. Er weiß, dass die Deutschen Stalin anders sehen. «Unser Volk hat so viele Opfer gebracht wie kein anderes Land im Kampf gegen Hitler. Sollten wir nie vergessen.»

Die letzten noch lebenden Soldaten der Roten Armee ärgern sich, dass ihre Rolle bei der Befreiung Europas von den Nazis immer weniger gewürdigt werde im Ausland. Die Russen feiern den 9. Mai, der für viele wichtiger ist als Ostern, mit Festessen und Wodka. Begangen wird das Fest einen Tag später als in Deutschland, weil bei der Kapitulation am 8. Mai 1945 in Moskau schon der neue Tag angebrochen war.

Seit langem versucht Präsident Putin mit seiner nationalpatriotischen Politik, das Land auf Basis dieser gemeinsamen Erinnerungskultur zu einen. Glück hat er dabei mit den Jubiläumsparaden allerdings nicht. Schon zum 70. Jahrestag lief wenig nach Plan. Nach Russlands Einverleibung der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine blieben westliche Staats- und Regierungschefs dem Großereignis demonstrativ fern.

Für dieses Mal gab es zwar prominente Zusagen etwa von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Aber es gab auch warnende Stimmen, nicht mit Putin zu feiern. Der Ukraine-Konflikt ist nicht beigelegt. Und auch Russlands Kampf an der Seite des syrischen Machthabers Baschar al-Assad sorgt international für Kritik.

Vor allem aber Polen und die baltischen Staaten, die der Sowjetunion wegen des Pakts mit Hitler-Deutschland die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geben, halten Feiern für deplatziert. Auch eine Entschließung des Europäischen Parlaments stieß in diese Richtung.

Wegen dieser Kritik sieht sich Russland unter Putin seit Jahren im Kampf gegen «Geschichtsfälscher». Scharf protestierte Moskau immer wieder gegen die Entfernung von Weltkriegsdenkmälern in Osteuropa - wie zuletzt im Fall der Statue des Sowjetmarschalls Iwan Konew in Prag. Nicht wenige Tschechen fühlten sich durch Konew schmerzhaft an die von den Sowjets errichtete kommunistische Diktatur erinnert.

Von einer «umkämpften Erinnerung» zum Jahrestag spricht die Leiterin des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, Susanne Dahlke. «Die Würdigung der Opfer, die Benennung der Verbrechen und die Anerkennung der Pluralität von historischer Erfahrung und Erinnerung wäre die Voraussetzung, um wieder miteinander in den kritischen Dialog zu treten», meint sie. In Deutschland selbst hat die Wertschätzung der Verdienste der Roten Armee lange Tradition.

Auch der rüstige Kriegsteilnehmer Dupak in Moskau hegt keinen Groll gegen die Deutschen. «Sie waren verblendet damals und besessen von der Idee, besser als alle anderen zu sein. Dafür haben sie brutal gekämpft. Aber wir haben sie besiegt.» Nach dem Krieg leitete Dupak lange das berühmte Taganka-Theater in Moskau, gab auch in Deutschland Gastspiele und spielte in vielen sowjetischen Filmen mit.

Ganz ohne offizielle Feiern geht es am 9. Mai nicht. Putin, der einen Kranz am Ewigen Feuer in Moskau niederlegen will, hat trotz der Corona-Pandemie Höhepunkte angekündigt. In mehreren russischen Städten sind Feuerwerk und Flugparaden der Luftstreitkräfte geplant. In seiner Rede dürfte er einmal mehr betonen, dass Russland unbesiegbar sei und die Parade bald nachgeholt werde. Dann marschieren Tausende Soldaten und donnern Panzer über den Roten Platz.

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