Harstads munterer Monsterroman

Zauberberg für die Kinder der 68er

Foto: wikimedia/John Erik Riley / The Lacktr Prpgnda Community
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REINBEK/HAMBURG (dpa) - Ein gewaltiges Unterfangen wie einst Thomas Manns «Zauberberg» und leicht zugänglich: Über 1200 Seiten lässt der Norweger Johan Harstad seinen Ich-Erzähler Max nach Wurzeln und Identität für die Generation der 68er-Kinder suchen. Man muss nicht jede Seite lesen und ist doch überwältigt.

Man hat diesen munteren Monsterromans fast geschafft und ist nach 1000 Seiten noch nicht so recht müde, da erfährt Max, dass sein Freund Mordecai sich umgebracht hat. Von der Trauerfeier stellt der norwegische Autor Johan Harstad auf zehn Seiten in aller Ruhe und abwechslungsreich die knapp 50 Trauergäste von innen, mit ihren Gedanken und Gefühlen vor. Vom Vater «mit dem toten Gesicht, einer Totenmaske» bis zum Kind, das grübelt, wie man sterben kann, ohne alt oder krank zu sein. Mal gibt es einen knappen Satz über nackte Verzweiflung, mal ironisierend verschiedene Varianten der Unfähigkeit zu trauern oder Warmherziges über das hier fast aussichtslose Ringen um Trost.

Da ist einer, der vor allem an seinen letzten Blowjob für Mordecai zurückdenkt, und dann einer, «der am Tag nach der Todesnachricht eine harte Diagnose bekam, aber heute nichts darüber sagen wird, weil er niemandem die Show stehlen und diesen Tag, der sowieso schon in Trümmern liegt, nicht noch mehr zerstören will». Der ganze Roman hat auch in den schrecklichen Augenblicken einen zugänglichen und skandinavisch lebensbejahenden Sound. Den hat Ursel Allenstein glänzend ins Deutsche gebracht. Am Grab des gemeinsamen Freundes trifft Max seine große Liebe Mischa wieder, die ihn verlassen hat, und kommt nicht daran vorbei, dass die Begegnung für ihn «die größte Freude seit ich weiß nicht wann» ist.

Der 40-jährige Harstad hat mit «Max, Mischa & die Tet-Offensive» auch einen Liebesroman geschrieben. Er lässt seine Hauptperson von den Kindertagen im norwegischen Stavanger der 80er und die Auswanderung der Familie in die USA erzählen. Die ist dem Pubertierenden verhasst, bis er im Schultheater mit Mordecai zusammenfindet. Max blickt als 35- Jähriger zurück auf die letzten 20 Jahre als mal mehr, mal weniger erfolgreicher, immer an der Sinnhaftigkeit seines Treibens zweifelnder Regisseur. Der Freund hat ihn früh mit der Malerin Mischa zusammengebracht, älter, erfahrener, reflektierter und im Künstlerberuf viel erfolgreicher als Max. In New York leben beide mit Max' Onkel Owen, geboren als norwegischer Ove, in Owens gewaltigem Manhattan-Apartment zusammen. Auch Mordecai gesellt sich mal dazu. Bis allerlei Unglücke, Krankheit, das Schwinden von Liebe und die Explosion der Mieten die Künstler-WG nach und nach sprengen.

Was nach klarer Chronologie mit Anfang und Ende klingt, wird von Harstad nicht nur zeitlich durcheinandergewürfelt. Aus dem Coming-of-Age-Roman wird irgendwann ein Künstlerroman, und wieder zurück, bleibt dabei immer ein Liebesroman, stets vorwärts getrieben von Max' Suche nach Heimat und festen Wurzeln. Es ist auch ein Generationsroman für und über die 68er-Eltern, nicht nur der Seitenzahl nach ein genauso großangelegter literarischer Anlauf, die eigene Zeit zu verstehen, wie einst Prousts «Suche nach der verlorenen Zeit», Thomas Manns «Zauberberg» und Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften».

Plötzlich irgendwo in der Mitte, durch Kapiteltrennung und -überschrift gut erkennbar, übernimmt Max' Onkel Owen vorübergehend die Hauptrolle vom Ich-Erzähler, was kurz frappiert, aber die Geschichte als Wechsel von Perspektive, Ton und Rhythmus nur noch interessanter macht. Harstad kann ganz viele Erzählerkniffe und setzt sie ohne Scheu ein. Erzählt wird von Owens vergeblichem Kampf um Anerkennung als Jazz-Pianist und seiner trotzigen Meldung als Freiwilliger für den Vietnam-Krieg, um so einen US-Pass zu ergattern. Die Tet-Offensive der Nordvietnamesen 1968 kennt er aus eigener, für den Rest des Lebens prägender Anschauung.

Der Vietnam-Krieg wird auf ganz andere Weise allgegenwärtig auch für den jüngeren Neffen in seinem norwegischen Stavanger, seit ihn Francis Ford Coppolas Kriegsfilm «Apocalypse Now» überwältigt hat. Er spielt eine Schlacht daraus mit seinen Kumpels nach und bricht sich dabei ein Bein. So ähnlich geht es auch dem Autor mit dem immer wieder bemühten, arg konstruierten Vietnam-Motiv. Die breit eingestreuten Wiedergaben erfundener Kunstkatalogtexte für Ausstellungen von Mischa oder Regieüberlegungen von Max zu eigenen Inszenierungen sind jede für sich lesenswert, aber für ungeduldige Leser eventuell verzichtbar. Man kommt dann unter 1000 Seiten, hat nichts von der Geschichte verpasst und ist sicher trotzdem überwältigt.

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