Ja, ich gebe es zu: Ich bin harmoniesüchtig. Spätabends setze ich mich auf den Balkon. Vor mir auf dem Tisch eine Kerze und ein Glas Wein. Am Horizont die Perlenkette der erleuchteten Schiffe, die mit ihren starken Lampen Tintenfische an die Oberfläche locken.
Aus dem Bose Musik von Schubert. Ein stressfreies angenehmes Leben. Damit kann man hier in Thailand alt werden. Ich habe die Fernsehsendungen über die Pandemie durch das Coronavirus ausgeblendet, während die Hysterie darüber panikartig anwächst. Harmonie ist das ausgleichende Prinzip unserer Welt und sollte auch für unser Leben gelten. Letzteres ist aber eher selten. Wem gelingt es schon angesichts von Sorgen, Krankheiten, beruflichen Schwierigkeiten und Stress einen harmonischen Ausgleich zu finden? Kindern gelingt es oft noch. Auch alten Menschen, wenn sie gesund und sorgenfrei leben können und sich gleichzeitig in einem Umfeld mit der Familie oder Freunden aufgehoben fühlen. Einsamkeit führt zu Depressionen, Einsamkeit tötet auch diejenigen, die sich einen Hund halten, um nicht allein zu sein. Verlust der nächsten Angehörigen und Trauer können ebenfalls dazu führen, dass die Harmonie des Lebens aus dem Ruder läuft.
Es gibt viele von Psychologen empfohlene Verhaltensweisen, die dagegen helfen. Beispielsweise das Verhältnis zur Umwelt: Stehe ich ihr positiv gegenüber oder abweisend? Bin ich hilfsbereit oder geizig? Gehe ich gerne in Gesellschaft essen oder lieber allein? All diese Fragen und noch viel mehr beeinflussen unser Leben und den Einklang mit unserer Umwelt. Klar, es kann auch mal zu einer Unstimmung führen. Ich leide darunter, kann nicht schlafen, bis dieses Problem endlich gelöst ist. Ich bin gerne unter Menschen, von denen ich mich verstanden fühle, die nicht zu den Hetzern und Rassisten gehören, die ich zutiefst verachte. Toleranz ist sicher eine wichtige Eigenschaft und Voraussetzung für Harmonie. Sie hat z.B. die Europäische Union stark gemacht. Jetzt bröckelt sie an allen Ecken und Enden. Nationale Gier und Eigensinn brechen sich Bahn. Für mich war die EU mal die große Hoffnung, dass die Länder enger zusammenrücken und Kriege dadurch verhindert werden könnten. Wer sich in der Welt umsieht, erblickt überall massive Uneinigkeit. Von Harmonie keine Spur. Dafür muss ich an dieser Stelle keine Beispiele nennen. Jeder kennt sie und viele fürchten um den Frieden, den die letzte Generation, zumindest in Europa, genießen durfte. Dichtung, Malerei und Musik sind die Elemente, die zur Harmonie führen, und ohne die ich gar nicht leben könnte.
Sie gehören zu den ältesten Errungenschaften der Menschheit. Wenn ich daran denke, wie die Nazis moderne Kunst vernichteten, Menschen und Bücher verbrannten, dieser ganze schreckliche Holocaust mit all den Grauentaten, dann stellt sich mir die Frage, warum Christenmenschen dagegen nicht aufstanden, warum sie diesen Rattenfängern massenweise hinterherliefen. Egoismus, Gier, Angst? Ja, ich glaube Angst beherrschte diejenigen, die innerlich gegen dieses menschenverachtende Regime waren, aber nicht wagten, offen dagegen aufzutreten. Sie wussten schon bald, dass sie keine Chance gehabt hätten. Nach der so lange erhofften und erwarteten Wiedervereinigung hat die Harmonie bis heute auch nicht wieder zusammengeführt. Deutschland und auch die EU leben nicht mehr in Harmonie miteinander. Das gilt natürlich auch für andere Länder. Sogar für Thailand, das ich lange Zeit für das friedlichste Land gehalten habe.
Die Buddhisten galten immer als friedlich und tolerant. Hier konnten die unterschiedlichsten Religionen problemlos nebeneinander leben. Inzwischen hat sich einiges verändert. Die Thais leben nicht mehr harmonisch nebeneinander und miteinander. Es gab die verschiedensten Militärputsche, es gab Krieg zwischen den Parteien, und nach dem Verbot einer Partei gibt es neuerdings fast täglich Demonstrationen in der Hauptstadt gegen die Regierung. Wir Expats außerhalb von Bangkok merken kaum etwas davon. Thailand ist für uns immer noch ein bevorzugtes glückliches Land, in dem wir gerne leben. Das gilt auch für die Thais selbst. Sie wollen nicht auswandern wie viele Menschen in anderen Ländern. Sie fühlen sich hier wohl, auch wenn die Lebensbedingungen sich verschärft haben. Die Frage stellt sich nur: Wie wird sich die Zukunft entwickeln? Wie wird das Coronavirus sich auswirken auf die Lebensbedingungen in diesem Land? Die Angst lebt weltweit. Sie bringt die Harmonie unseres Planeten in eine Krise. Wieder einmal. Die Menschen schwanken zwischen Hoffnung und Pessimismus. Wenn dieses Virus nicht eingedämmt werden kann, dann steht die ganze Welt vor einer Katastrophe, die mehr Menschen hinwegraffen könnte als die Pest vor Jahrhunderten. Nein ich lebe nicht in Panik.
Ich trage auch keine Maske, lebe aber praktisch in Quarantäne. Ich niese, wenn es nötig ist, in die Armbeuge, und gebe meinen Bekannten und Freunden auch nicht mehr die Hand. Wir bedienen uns des thailändischen Grußes, indem wir einen Wai machen. Das erfreut die Thais und verhindert gleichzeitig die Übertragung von Keimen. Vielleicht trägt das auch dazu bei, dass diese Krankheit hier nicht zu einer Pandemie führt. Noch habe ich den Eindruck, dass dieses Land in der Harmonie des Buddhismus lebt. Aus diesem Grund habe ich mich auch dafür entschieden, hier zu leben und zu bleiben. Stressfrei und in Harmonie. Wer diesen Zustand für sich nicht herstellen kann, der lebt im falschen Land oder im falschen Leben. Ich lebe hier im richtigen Land und in einem richtigen Leben. Ich freue mich über jeden, der das auch für sich sagen kann und gerne hier lebt.