Haitis Rumpf-Senat wählt neuen Staatschef

​Vorerst keine US-Truppen

Der Haitianische Präsident Jovenel Moise spricht zur Presse in den Gärten des Nationalpalastes, in Port-au-Prince. Foto: epa/Orlando Barría
Der Haitianische Präsident Jovenel Moise spricht zur Presse in den Gärten des Nationalpalastes, in Port-au-Prince. Foto: epa/Orlando Barría

PORT-AU-PRINCE: Nach dem Mord am Präsidenten zeichnet sich in Haiti ein Machtkampf ab. Zwei Männer erklären sich zum Interims-Regierungschef, der nicht beschlussfähige Senat wählt einen Nachfolger des toten Staatschefs. Ex-Besatzungsmacht USA wird um Truppen gebeten, doch wartet zunächst ab.

Die USA wollen nach der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse Berichten zufolge vorerst keine Truppen dorthin schicken. «Es gibt zur Zeit keine Pläne, US-Militärhilfe zu leisten», zitierte die «New York Times» am Freitag (Ortszeit) einen hochrangigen US-Regierungsbeamten. Haitis Interimsregierung hatte die frühere Besatzungsmacht gebeten, Truppen zu schicken, um bei der Sicherung von für die Infrastruktur wichtigen Orten zu helfen, wie Wahlminister Mathias Pierre internationalen Medien sagte. In Port-au-Prince zeichnete sich ein Machtkampf ab: Der Senat wählte einen neuen Übergangspräsidenten.

Das Oberhaus des haitianischen Parlaments ist seit Januar 2020 allerdings nicht mehr beschlussfähig. Acht der zehn noch amtierenden Senatoren stimmten nach Medienberichten am Freitag dennoch für den bisherigen Senatspräsidenten Joseph Lambert als Übergangs-Nachfolger des Staatschefs Moïse. Zwei enthielten sich demnach. «Ich spreche den politischen Institutionen, die mich unterstützen, meine bescheidene Dankbarkeit aus», schrieb Lambert auf Twitter. Er wolle den Weg für einen demokratischen Machtwechsel ebnen. Im September sind in Haiti Präsidenten- und Parlamentswahlen geplant.

Lamberts Wahl gilt als Herausforderung des Machtanspruchs des Interims-Premierministers Claude Joseph. Es war jedoch zunächst unklar, ob Lambert tatsächlich das Amt des Übergangspräsidenten antreten und einen eigenen Premierminister ernennen kann. Weil eine für Oktober 2019 vorgesehene Parlamentswahl unter anderem wegen heftiger Proteste gegen Moïse ausgefallen war, gibt es nur noch 10 von 30 Senatoren, deren Amtszeiten nicht abgelaufen sind. Im Unterhaus, der Abgeordnetenkammer, sitzt niemand mehr.

Mehrere politische Parteien und Bewegungen in dem Karibikstaat, der sich die Insel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, hatten sich einem gemeinsamen Schreiben zufolge auf Lambert als Interims-Staatschef geeinigt. Interims-Premierminister und damit Regierungschef soll demnach der Neurochirurg Ariel Henry werden. Den hatte Moïse am Montag zum siebten Premier seiner Amtszeit ernannt.

Henrys Vereidigung war nach dem Attentat aber ausgefallen. Der Außenminister Joseph, der seit April Interims-Premierminister war, erklärte seinen einstweiligen Verbleib in dem Amt. Er hielt in den vergangenen Tagen Ansprachen an die Nation, unterzeichnete Erlasse und führte Gespräche mit Vertretern ausländischer Regierungen. In einem Interview der haitianischen Zeitung «Le Nouvelliste» sagte Henry, seiner Ansicht nach sei er Premierminister - nicht Joseph.

Der 53 Jahre alte Staatschef Moïse war in der Nacht zum Mittwoch in seiner Residenz überfallen und erschossen worden. Seine Ehefrau Martine wurde schwer verletzt. Nach Angaben der haitianischen Polizei führten 28 ausländische Söldner, die sich als Anti-Drogen-Agenten der USA ausgaben, den Mord aus: 26 Kolumbianer und zwei US-Amerikaner haitianischer Herkunft. Bisher wurden demnach 20 Tatverdächtige festgenommen und drei getötet. Kolumbiens Führung hat 13 Ex-Soldaten des südamerikanischen Landes als mutmaßlich Beteiligte identifiziert. Die Hintergründe der Tat waren unklar.

Erstmals nach dem Attentat meldete sich die Präsidentengattin am Samstag mit einer Audio-Botschaft zu Wort, die über ihr Twitter-Konto veröffentlicht wurde. Sei sei Gott sei Dank am Leben, Söldner hätten ihr ihren Mann nach 25 gemeinsamen Jahren aber in einem einzigen Augenblick genommen. Er sei ermordet worden, weil er für Straßen, Wasser, Strom und ein Verfassungsreferendum gekämpft habe.

Einige Aktivisten und Politiker äußerten den Verdacht, es handle sich um einen Putsch. Nach Berichten von «Le Nouvelliste» wurden mehrere Personen für Ermittlungen zu dem Attentat in den kommenden Tagen zur Staatsanwaltschaft gebeten - darunter die für die Sicherheit des Präsidenten zuständigen Männer sowie Oppositionspolitiker und zwei mächtige Geschäftsmänner, die sich im Ausland aufhalten sollen.

Proteste gegen Moïse, der seit 2017 im Amt war, hatten Haiti zuletzt immer wieder lahmgelegt. Ihm wurden Korruption, Verbindungen zu brutalen Banden und autokratische Tendenzen vorgeworfen. Im Februar ernannten Oppositionsparteien einen Übergangspräsidenten, weil aus ihrer Sicht Moïses Amtszeit abgelaufen war. Zuletzt trieben blutige Kämpfe zwischen Banden um die Kontrolle über Teile der Hauptstadt Tausende Menschen in die Flucht und behinderten den Warenverkehr. Die Durchführbarkeit der geplanten Wahlen ist daher fraglich.


Das Gefühl einer Inszenierung: Attentat in Haiti gibt Rätsel auf
Nick Kaiser (dpa)

PORT-AU-PRINCE: Eine Art angespannte Normalität setzt in Port-au-Prince nach dem Präsidentenmord ein. Aber in Haiti ist selbst Normalität mit Schrecken verbunden. Über die offizielle Darstellung der Ereignisse macht sich Skepsis breit. Greifen jetzt die USA wieder ein?

Zwei Tage lang waren die sonst stets verstopften, lärmigen Straßen von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince leer. Es herrschte Schockstarre. Im hügeligen Vorort Pelerin, wo Staatspräsident Jovenel Moïse in der Nacht zum Mittwoch in seiner Residenz erschossen worden war und die Polizei nun nach den Tätern fahndete, durchbrachen immer wieder Schüsse die gespenstische Stille.

Jetzt ist wieder so etwas wie Normalität eingekehrt - soweit man das von einer Stadt behaupten kann, die zu einem Drittel unter der Kontrolle brutaler Banden steht. Die Banken und Lebensmittelgeschäfte hätten wieder auf, berichtet die Landesdirektorin der Welthungerhilfe, Annalisa Lombardo. Als Ausländerin traue sie sich aber noch nicht vor die Tür. Es sind aufgebrachte Menschenmengen unterwegs, und die Regierung hat erklärt, dass die Attentäter Ausländer seien.

Fünf der insgesamt 28 Mitglieder der Kommandotruppe, die Moïse ermordet und seine Ehefrau verletzt haben soll, sind laut Polizei noch auf der Flucht. 20 seien festgenommen worden, drei getötet. Insgesamt 26 der Täter sollen kolumbianische Söldner gewesen sein; die übrigen zwei US-Amerikaner haitianischer Herkunft. Sie sollen sich als Agenten der US-Anti-Drogenbehörde DEA ausgegeben haben. Kolumbiens Führung hat 13 Ex-Soldaten des südamerikanischen Landes als mutmaßliche Beteiligte identifiziert.

Die zwei größten Fragen sind aber weiter offen: Wer hat den Mord in Auftrag gegeben? Und warum? Auch zum Ablauf der Ereignisse bleibt vieles ungeklärt. Warum haben beispielsweise die Sicherheitsleute, die Moïses Residenz bewachten, anscheinend keinen Widerstand geleistet? Sie blieben unverletzt.

Rätselhaft sei auch, meint Lombardo, dass das angeblich gut ausgebildete Kommando offenbar keinen Fluchtplan hatte. «Und dann wurden sie vom wütenden Mob mit bloßen Händen gefangen.» Mehr und mehr Haitianer bezweifelten, dass die kolumbianischen Söldner hinter dem Attentat steckten, erzählt sie. «Es gibt ein deutliches Gefühl, dass etwas inszeniert worden ist.»

Richard Widmaier findet es lachhaft, dass die sonst unfähige Polizei auf einmal 20 Profi-Killer innerhalb kurzer Zeit geschnappt haben will. «Das kauft ihnen keiner ab», sagt der Chef des Senders Radio Métropole. Es gebe auch Informationen, wonach die Kolumbianer in Wirklichkeit von der Regierung im Kampf gegen die Gangs im Juni angeheuert worden waren, in der Nacht zum Mittwoch zu Hilfe gerufen wurden und bei ihrer Ankunft den Präsidenten tot auffanden. «Es scheint, als seien sie diejenigen gewesen, die sie ins Krankenhaus brachten», betont er mit Blick auf die Präsidentengattin.

Es werde jetzt mit dem Finger auf verschiedene Personen als mögliche Hintermänner gezeigt, sagt Widmaier. Moïse habe viele Feinde gehabt. Der Präsident hatte erst am Montag den Neurochirurgen Ariel Henry zum neuen Interims-Premierminister ernannt. Dessen für Mittwoch geplante Vereidigung fiel wegen des Attentats in der Nacht davor aber aus, und sein Vorgänger, der Außenminister Claude Joseph, erklärte sich zum amtierenden Regierungschef. Manche Haitianer, darunter prominente Aktivisten und Politiker, vermuten nicht zuletzt wegen dieser zeitlichen Folge einen Putsch.

Joseph wird von der internationalen Gemeinschaft als Ansprechpartner akzeptiert, Henry sieht sich aber als den wahren Premierminister. Weil Haiti seit gut eineinhalb Jahren kein beschlussfähiges Parlament mehr hat, kann keiner von beiden verfassungsgemäß bestätigt werden. Die zehn übriggebliebenen Senatoren haben jetzt den bisherigen Senatspräsidenten Joseph Lambert zum Übergangspräsidenten gewählt. Es zeichnet sich ein Machtkampf ab.

Der erste Herrscher des unabhängigen Haiti nach dem Sklavenaufstand, Jean-Jacques Dessalines, war 1806 ermordet worden. Vor Moïse ereilte zuletzt 1915 mit Vilbrun Guillaume Sam einen haitianischen Präsidenten dieses Schicksal. Es folgte kurz darauf eine fast 20 Jahre lange Besatzung Haitis, das sich die Insel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, durch die nahegelegenen USA.

Auch nach dem Putsch 2004 gegen Haitis ersten demokratisch gewählten Präsidenten, Jean-Bertrand Aristide, kamen US-Soldaten gemeinsam mit UN-Friedenstruppen, um die Lage zu beruhigen. Jetzt werden wieder Rufe nach einem stabilisierenden Eingreifen der USA laut. Die Regierung von Joseph hat die Ex-Besatzungsmacht gebeten, Truppen zu schicken, um Infrastruktur zu schützen, wie Wahlminister Mathias Pierre dem Nachrichtensender CNN sagte.

Viele Haitianer sind streng dagegen. «Wir wollen keine US-Truppen auf haitianischem Boden», twittert etwa die Aktivistin und Schriftstellerin Monique Clesca. Andere sehen darin die einzige Möglichkeit, dass die für den 26. September geplanten Präsidenten- und Parlamentswahlen stattfinden können - auch, weil Banden mit ihren Kämpfen um Gebiete zuletzt Tausende Menschen in die Flucht trieben, den Warenverkehr teilweise lahmlegten und den Süden des Landes praktisch von der Hauptstadt abschnitten.

Widmaier befürchtet angesichts der Bandengewalt und einer wütenden und hungrigen Bevölkerung, dass es zu verheerenden Ausschreitungen wie am Ende der Duvalier-Diktatur 1986 kommen könnte. In dem Fall würde er US-Truppen begrüßen, meint er. «Wir alle spüren, dass irgendwas passieren wird - dass es noch nicht vorbei ist.»

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