Volkszorn in Belarus bringt Lukaschenkos Machtapparat ins Wanken

Frauen versammeln sich zur Unterstützung inhaftierter und verletzter Teilnehmerinnen der Proteste, die im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen in Minsk ausgebrochen sind. Foto: epa/Stina Stjernkvisttatjana Zenkowitsch
Frauen versammeln sich zur Unterstützung inhaftierter und verletzter Teilnehmerinnen der Proteste, die im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen in Minsk ausgebrochen sind. Foto: epa/Stina Stjernkvisttatjana Zenkowitsch

MINSK: Die Menschen in Belarus lassen sich auch von der beispiellosen Polizei-Gewalt nicht von ihrem Kampf gegen «Europas letzten Diktator» abschrecken. Staatschef Alexander Lukaschenko bleibt zwar hart. Aber wird er die schwerste Krise seines Lebens politisch überstehen?

Seit Sonntag gehen die Menschen jeden Tag gegen die inzwischen durch unzählige Beweise belegte Fälschung der Präsidentenwahl in Belarus (Weißrussland) auf die Straße. Zwar hat die Polizei in der Nacht zum Donnerstag die Gewalt gegen friedliche Demonstranten etwas zurückgefahren. Trotzdem schlugen viele Uniformierte weiter auf wehrlose Menschen ein. Es gab erneut Hunderte Festnahmen, deren Gesamtzahl auf rund 7000 stieg. Zur Lage um die größten Proteste, die die Ex-Sowjetrepublik je erlebt hat, einige Fragen und Antworten:

Was wollen die Menschen mit ihren Straßenprotesten erreichen?

Die Proteste richten sich gegen Präsident Alexander Lukaschenko. Der 65-Jährige gilt als «Europas letzter Diktator». Wie schon oft bei international nicht als frei anerkannten Wahlen hat er sich auch diesmal mit rund 80 Prozent der Stimmen zum Sieger erklären lassen. Es gibt aber unzählige Beweise dafür, dass die Wahlbüros vielfach die Ergebnisprotokolle gefälscht haben. In vielen Staatsbetrieben sind Menschen in Streik getreten. Verbreitet ist dort die Meinung, dass die Lukaschenko-Gegnerin Swetlana Tichanowskaja die Wahl am Sonntag gewonnen hat. Die Unterstützer der 37-Jährigen wollen eine Neuauszählung der Stimmen erreichen.

Seit vielen Jahren gibt es Wahlfälschungsvorwürfe gegen Lukaschenko - warum sind Proteste diesmal so groß und blutig wie nie zuvor?

Bei den Wahlen in der Vergangenheit konnten die Gegner Lukaschenkos nie einen Kandidaten aufstellen, der in der Lage gewesen wäre, die Menschen zu mobilisieren und große Teile der Gesellschaft auf sich zu vereinen. Die Fremdsprachenlehrerin Tichanowskaja, die sich zuletzt um ihre Kinder kümmerte und Hausfrau war, schaffte das aber. Sie trat als Kandidatin an - für ihren inhaftierten Mann Sergej Tichanowski. Der regierungskritische Blogger sitzt in Haft und konnte deshalb nicht kandidieren. Vor den Wahllokalen bildeten sich am Sonntag Schlangen, die Menschen warteten Stunden. Sie kämpfen nun darum, dass ihre Wahl respektiert wird - und Lukaschenko geht.

Wer sind die Protestierenden, und wie sind sie organisiert?

Vertreten ist die gesamte Bevölkerung. Offizielle Organisatoren der Proteste gibt es nicht. Vieles läuft nach Meinung von Beobachtern von ganz allein, weil die Wut über Polizeigewalt und Wahlbetrug die Menschen auf die Straßen treibe. Die Aufrufe zu Protesten laufen vor allem über unabhängige und regierungskritische Plattformen im Nachrichtenkanal Telegram. Telegram-Gründer Pawel Durow teilte mit, dass er die Proteste unterstütze. Während viele Internetseiten blockiert sind, funktioniert oft nur noch Telegram.

Wird sich Lukaschenko einmal mehr mit Gewalt im Amt halten, oder kommt es zu einem Machtwechsel?

Bis jetzt kann sich Lukaschenko dank des straff organisierten Sicherheitsapparats aus der Sonderpolizei OMON und Einheiten des Geheimdienstes KGB halten. Die Kräfte gehen mit Tränengas, Wasserwerfern, Gummigeschossen, Blendgranaten und Knüppeln gegen friedliche Demonstranten vor. Diese beispiellose Gewalt hat viele Menschen entsetzt. Es gibt immer mehr Risse im System, die tiefer werden. Auch Angehörige der Sicherheitsorgane schließen sich teils den Demonstranten an. Einige quittieren den Dienst, werfen ihre Uniformen in den Müll oder verbrennen sie öffentlich.

Auch bei den Staatsmedien, die Lukaschenko zur Steuerung der öffentlichen Meinung kontrolliert, kündigen nun reihenweise prominente Moderatoren. Vor allem aber die Streiks könnten zum Ende des Systems führen, meinte der Minsker Analyst Artjom Schraibman. Der Machtapparat habe kaum noch Spielraum. Indem sich das System während der Corona-Pandemie gleichgültig gezeigt habe, «wurde ein Prozess angestoßen zur Politisierung großer Massen früher apathischer Menschen». Die Repressionswelle versetze die Menschen in Rage.

Gibt es eine mögliche Führungsfigur in Belarus?

Bisher nicht, es gibt - anders als in Russland - keine Oligarchen und kein ausgeprägtes Parteiensystem. Das ganze System ist nach mehr als einem Vierteljahrhundert auf Lukaschenko ausgerichtet. Tichanowskaja wollte selbst auch nur Präsidentin werden, um alle politischen Gefangenen freizulassen und eine Neuwahl auszurufen. Die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch sagte nun, dass es nach einem Rücktritt Lukaschenkos ein Komitee zur nationalen Rettung brauche. Die Elite müsse sich zusammenfinden dafür. Alexijewitsch hatte sich für den Ex-Bankenchef Viktor Babariko als Präsidentenkandidat ausgesprochen, der aber in Haft sitzt.

Wie reagiert Russland auf die Lage als traditionell engster Partner von Belarus, das wirtschaftlich abhängig vom großen Nachbarn ist?

Kremlchef Wladimir Putin hat als einer der ersten Lukaschenko zum «Sieg» gratuliert. Obwohl es zwischen Minsk und Moskau oft Streit gibt, weil Belarus nicht einverleibt werden will, gilt Lukaschenko als Garant dafür, dass sich die Ex-Sowjetrepublik nicht von Russland ab- und der EU und der Nato zuwendet. Die Nervosität ist in Moskau spürbar groß. Seit Tagen rechnen Experten vor, wie groß der politische Schaden für den russischen Präsidenten wäre, wenn er nach der Ukraine auch Belarus verlöre. Zudem stehe Belarus bei Russland mit fast 40 Milliarden US-Dollar in der Kreide, hieß es. Diesen Schulden stehen nur noch 9 Milliarden US-Dollar in der Staatskasse gegenüber.

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