Gemüse, Geisterwähler, Gemeinheiten

Die Kommunalwahlen in der Türkei

Foto: epa/Sedat Suna
Foto: epa/Sedat Suna

ISTANBUL (dpa) - Vor der Kommunalwahl am Sonntag hat der türkische Präsident Erdogan einen besonders aggressiven Wahlkampf geführt. Wieso? Unter anderem, weil die Wähler sauer sind wegen der schlechten Wirtschaftslage. Es könnte sogar um den Fortbestand der Regierungskoalition gehen.

Sein Gesicht ist überall - auf Plakaten, im Fernsehen und in den Zeitungen, dabei geht es diesmal gar nicht um ihn selbst: Vor der Kommunalwahl am Sonntag hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan einen besonders aggressiven Wahlkampf geführt. Fast täglich hat er Reden gehalten, durchs halbe Land ist er getourt. Sein Rekord lag bei acht Auftritten an einem Tag, in voller Länge ausgestrahlt von vielen Fernsehsendern.

Rund 57 Millionen Wahlberechtigte bestimmen am 31. März die Bürgermeister, Ortsvorsteher, Gemeinderäte und andere lokale Amtsinhaber in den 81 Provinzen. 13 Parteien stellen Kandidaten. Die wichtigsten sind die Regierungspartei AKP und ihr Bündnispartner, die ultranationalistische MHP, sowie die Mitte-Links Partei CHP, die pro-kurdische HDP und die nationalkonservative Iyi-Partei.

Die Macht der Erdogan-Regierung können die Resultate - zumindest direkt - nicht gefährden, denn seit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 hat Erdogan so viel Macht wie nie. Trotzdem ist die Wahl der Lokalpolitiker wichtig für ihn.

Warum ist die Kommunalwahl so wichtig für Erdogan?

Die Wahl ist zunächst ein Stimmungstest. Sollte die AKP schlechter abschneiden als bei den Kommunalwahlen 2014 würde das der Opposition, aber auch parteiinternen Kritikern Auftrieb verschaffen. Bei der Wahl der Großstadtbürgermeister hatte die AKP laut Wahlbehörde damals 45,5 Prozent der Stimmen bekommen, bei den Gemeinderäten rund 42,8 Prozent.

Stimmenverluste könnten sogar die Regierungskoalition von AKP und MHP gefährden. Erdogan selbst hat die Wahl hochstilisiert zu einem Kampf um Fortbestand oder Niedergang des Landes. Der Analyst Vahap Coskun sagt, wenn das Gesamtergebnis der beiden Parteien deutlich unter den Erwartungen bleibe, werde es in der AKP-MHP-Allianz ernste Diskussionen geben. «Die Türkei hat kein Fortbestandsproblem, aber die Allianz hat eines», sagt Coskun.

Abzulesen ist Erdogans Sorge angesichts solcher Szenarien an der Polarisierung des Wahlkampfs. Seine Gegner hat er dämonisiert als Terroristen, Kriminelle oder als «Unverschämte», die Gebetsruf, Fahne und Moral entehrten - unter ihnen Teilnehmerinnen einer großen Frauentagsdemo in Istanbul, denen er vorwarf, dass sie während des Gebetsrufs weiter gesungen und Slogans gerufen hätten.

Die Kampagne sei gezeichnet gewesen von «nie da gewesenen Drohungen gegen Oppositionsführer und Kandidaten», schrieb der bekannte, regierungskritische Analyst Kadri Gürsel für das Online-Magazin «Al-Monitor». CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu sagte: «Sie greifen uns ständig an. Morgens, mittags und abends. Als würden wir in den Krieg ziehen. Dabei sind es doch nur Gemeindewahlen.»

Wieso sorgt sich Erdogan?

Ein Grund für die Schärfe im Wahlkampf ist die wirtschaftlichen Lage. Erdogan betonte in seinen Reden die vielen Verbesserungen in der Infrastruktur unter seiner AKP, von neuen Kliniken über Sportstadien bis hin zu Schnellstraßen. Aber die Türkei steckt seit Ende 2018 in der Rezession. Die Lira hat massiv an Wert verloren, die Zahl der Arbeitslosen stieg innerhalb eines Jahres um rund eine Million und die Teuerungsrate um rund 20 Prozent. Manche Lebensmittel wie die in der türkischen Küche besonders beliebten Auberginen wurden gleich um rund 80 Prozent teurer. Die Regierung schob das auf gierige Händler und Manipulationen des Westens und begann daraufhin in einer der spektakulärsten Aktionen des Wahlkampfs, in Ankara und Istanbul Gemüse zu Einkaufspreisen abzugeben.

Wo wird's besonders spannend - und wie könnte es ausgehen?

Spannend wird die Wahl vor allem in der Hauptstadt Ankara und der Metropole Istanbul. Beide werden seit mehr als 20 Jahren von der AKP beziehungsweise ihren Vorgängerparteien regiert. Eine Niederlage dort wäre ein enormer Gesichtsverlust für Erdogan, der selbst einst Bürgermeister von Istanbul war. Zumindest in Ankara scheint CHP-Oppositionskandidat Mansur Yavas Umfragen zufolge gute Chancen gegen den Kandidaten der AKP, Mehmet Özhaseki, zu haben. Schon bei der Kommunalwahl 2014 hatte er nur knapp verloren. In Istanbul hat die AKP mit Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim einen ihrer prominentesten Spieler aufgestellt, die CHP den relativ unbekannten Ekrem Imamoglu. Hier sehen Umfragen eher den AKP-Kandidaten vorn.

Umfragen sind in der Türkei grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen - allerdings sehen viele Institute auch in anderen Millionenstädte wie Bursa und Adana eher enge oder sogar Kopf-an-Kopf-Rennen voraus.

Ist die Wahl fair und frei?

Daran gibt es Zweifel. Die Opposition bemängelt, dass es in den Registern Tausende Geisterwähler gebe - also Wähler, die nicht existieren. Der Autor einer Analyse des Middle East Institute warnt, dass der Einsatz von Tausenden paramilitärischen Einheiten zur «Verhinderung von Wahlmanipulation» genau dazu führen könnte.

Oppositionsmedien meldeten außerdem Festnahmen von HDP-Politikern im Osten. Dort muss die HDP fürchten, dass gewählte HDP-Bürgermeister per Dekret wieder abgesetzt werden. Erdogan hat das bereits angekündigt. Er wirft der HDP vor, der verlängerte Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Von 102 HDP-Gemeinden stehen nach Parteiangaben schon jetzt 95 unter Zwangsverwaltung.

Wahlbeobachter hatten schon nach den Wahlen im Juni 2018 kritisiert, dass die Kandidaten nicht die gleichen Chancen gehabt hätten, unter anderem wegen Einschränkungen bei Versammlungsfreiheit und Medien. An der Situation der Medien hat sich seitdem nichts geändert. Sie stehen zum Großteil unter direkter oder indirekter Kontrolle der Regierung. Wähler hatten es schwer, an ausgewogene Informationen zu kommen.

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