Australiens Corona-Politik und die Menschenrechte

Der Großraum Sydney und die umliegenden Regionen sind bis mindestens 28. August abgeriegelt. Foto: epa/Dan Himbrechts
Der Großraum Sydney und die umliegenden Regionen sind bis mindestens 28. August abgeriegelt. Foto: epa/Dan Himbrechts

SYDNEY: Kein demokratisches Land hat sich in der Corona-Krise so abgeschottet wie Australien. Zehntausende Staatsbürger sitzen noch immer im Ausland fest. Andere, die raus wollen, sind quasi in Down Under eingesperrt. Wie ist das mit den Menschenrechten vereinbar?

Jade Grant streicht ihrem einjährigen Sohn Jacob über die Haare, während er auf ihrem Schoß spielt. Die Großeltern in England haben ihren Enkel noch nie auf dem Arm gehabt, sie kennen ihn nur von Fotos und Videoanrufen. Doch gerade jetzt könnte eine echte Umarmung nicht dringender sein: Jacobs Großmutter hat Lungenkrebs im Endstadium und wohl nur noch Monate zu leben. Aber die britische Familie mit drei Kindern, die vor fünf Jahren in die Stadt Gold Coast an der australischen Ostküste ausgewandert ist, kann nicht ausreisen, ohne ihr Leben - das sie sich mühsam aufgebaut hat - komplett aufzugeben.

Das strikte internationale Reiseverbot, das Australien im März 2020 erlassen hat, um die Bevölkerung vor Corona zu schützen, macht die Ein- und Ausreise für die meisten Menschen nahezu unmöglich. Seit Juni dürfen nur noch 3085 Menschen pro Woche ins Land, davor waren es immerhin noch 6070. Wer einen besonders triftigen Grund hat, kann eine Ausnahmegenehmigung beim australischen Grenzschutz beantragen. Todkranke Familienmitglieder, Beerdigungen und dringliche geschäftliche Verpflichtungen im Ausland zählen zu diesen Gründen.

«Ich bin davon ausgegangen, dass ich auf jeden Fall diese Ausnahmegenehmigung bekomme», sagt Grant (32) im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Drei Anträge sind aber bereits abgelehnt worden, der vierte läuft. Das ist bei vielen so, die Gründe bleiben unklar. Der Unmut bei den Betroffenen wächst. Auch Rechtsexperten und Menschenrechtsorganisationen stellen zunehmend die Legalität des bald 18 Monate andauernden Reiseverbots infrage.

Die Grants sind mit einem temporären Visum in Down Under, im kommenden Jahr wollen sie die Staatsbürgerschaft beantragen. Rob Grant ist Tischler - Handwerker werden in Australien händeringend gesucht. Theoretisch kann die Familie auch - anders als Staatsbürger und Menschen mit Wohnsitz - ausreisen. Aber ohne Sondererlaubnis kommt sie danach nicht wieder ins Land. Und diese wird einfach nicht erteilt. Die Situation sei unerträglich, sagt Grant. «Das Thema bestimmt unser gesamtes Leben, wir können an nichts anderes mehr denken. Es ist ein täglicher Kampf.»

Kein anderer demokratischer Staat hat seine Grenzen in der Corona-Pandemie so lange und so strikt geschlossen. Medien sprechen regelmäßig von der «Festung Australien». In sozialen Netzwerken vergleichen wütende Bürger das Land sogar schon mit der Gefängniskolonie, die es einst war. «Wenn ich mir vorstelle, dass jemand in einem Land eingesperrt ist, dann klingt das für mich nach einem undemokratischen, totalitären System», sagt Kim Rubenstein, Rechtsprofessorin an der Australian National University (ANU).

«Wir wurden gegen unseren Willen hier festgehalten», erzählt etwa Shaalyn Monteiro, eine indische Künstlerin, die mit ihrem Mann knapp fünf Jahre in Sydney lebte und im September das Land für immer verlassen will. «Wir möchten bei unserer Familie sein und nicht mehr zurückkommen. Das haben wir auch in unserer Bewerbung belegt. Inwiefern gefährden wir die Gesundheit von Australiern, wenn wir gar nicht hier sind?» Eine Frage, die vom Gesundheitsministerium in Canberra auf Nachfrage der dpa nicht beantwortet wurde. Nach immer neuen gescheiterten Bewerbungen schafft es das Paar dann schließlich doch noch, die Genehmigung zu bekommen.

Die rechtliche Grundlage für das internationale Reiseverbot ist der Bio Security Act von 2015. Im Interesse der öffentlichen Gesundheit darf die Regierung Freiheiten ihrer Bürger beschränken - wie in diesem Fall die Bewegungsfreiheit, die aber auch ein Menschenrecht ist. «Der Rahmen, in dem das Reiseverbot verhängt wurde, scheint mir nicht rechtmäßig zu sein. Das Bio Security Gesetz enthält Formulierungen, die denen der Menschenrechtskonvention ähneln und besagen, dass alle Maßnahmen zumutbar und angemessen sein müssen», sagt Rubenstein. Aber sind Australiens Regeln das noch?

Menschenrechtler und Kritiker des Reiseverbots fordern jetzt zumindest den Bau von speziellen Quarantäne-Einrichtungen, um so eine sichere Ein- und Ausreise für mehr Menschen zu ermöglichen. Bislang muss jeder - ob geimpft oder ungeimpft - 14 Tage in Hotelquarantäne, die etwa 3000 australische Dollar (rund 1800 Euro) pro Person kostet und selbst gezahlt werden muss. «Eine Investition in spezielle Einrichtungen würde bedeuten, dass wir mehr Australier schneller nach Hause bringen können», sagt Tim O'Connor von Amnesty International Australia. Viele warten seit Beginn der Pandemie darauf.

Nach aktuellen Angaben des australischen Außenministeriums geben etwa 40.000 Australier im Ausland an, in ihre Heimat zurückkehren zu wollen. Betroffene berichten von immer wieder stornierten Flügen und Ticketpreisen, die bis zu zehnmal so hoch sind wie unter normalen Umständen. Viele können sich die Rückkehr einfach nicht leisten.

Auch Christian, ein australischer Drehbuchautor, saß lange in den USA fest. Nur mit viel Geduld und Geld schaffte er es zurück nach Sydney. «Jeder Australier, der im Ausland lebt und nach Hause kommen möchte, sollte sowohl Hilfe als auch die Erlaubnis dafür bekommen», sagt er. «Jede Politik, die anders agiert, ist verabscheuungswürdig.»

Für Australier, die gewöhnlich im Ausland leben und etwa aus dringenden familiären Gründen zurückkommen müssen, wurden aber jetzt die Ausreiseregelungen sogar noch einmal verschärft: Sie dürfen nach dem Besuch nicht mehr automatisch in ihre eigentlichen Wohnorte ausreisen und müssen dafür ebenfalls eine Sondergenehmigung beantragen. Amnesty schrieb in einem Brief an Premier Scott Morrison, dies sei nicht nur eine Verletzung der Menschenrechte, sondern könnte auch als Verstoß gegen die australische Verfassung gesehen werden.

Australiens Isolationsstrategie hat lange Wirkung gezeigt, noch immer liegt die Zahl der Todesopfer im Zusammenhang mit Covid-19 bei unter 1000. Aber seit Monaten breitet sich die Delta-Variante aus. Immer häufiger werden für ganze Regionen und Millionenmetropolen kurzfristig Lockdowns angeordnet - manchmal für eine Woche, manchmal - wie derzeit im Fall von Sydney - für Monate.

Australiens Nachbar Neuseeland hat vor kurzem angekündigt, seine Grenzen Anfang 2022 wieder schrittweise zu öffnen. Die australische Regierung hat eine Öffnung des Landes zuletzt für Juli 2022 in Aussicht gestellt. Für Jade Grant und viele andere, die unter der Entfernung zu Familie und Freunden leiden, ist das zu spät.

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