ST. PETERSBURG: In der Nähe von St. Petersburg finden über 500 deutsche Soldaten ihre letzte Ruhestätte. Das Gedenken an die Weltkriegstoten ist eine der wenigen Verbindungen, die vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zwischen Moskau und Berlin geblieben sind.
Mild scheint die Herbstsonne auf die kleinen schwarzen Pappsärge. In Dreierreihen stehen sie in einem von einem Bagger ausgehobenen Graben. 200 Meter weiter ist noch ein solcher Graben zu sehen. Auch er ist voll mit kleinen Särgen. 525 deutsche Wehrmachtssoldaten, deren Gebeine in den vergangenen drei Jahren im Nordwesten Russlands geborgen wurden, finden hier auf dem Soldatenfriedhof Sologubowka unweit von St. Petersburg ihre letzte Ruhestätte.
Die meisten Toten bleiben namenlos, doch immerhin 116 konnten identifiziert werden. «In absehbarer Zeit werden Familien Nachrichten erhalten, dass vor Petersburg auf unserem Friedhof Sologubowka der Großvater, Vater, Bruder oder Onkel liegt. Eine Gewissheit, die nach so vielen Jahren voraussichtlich den Enkeln hilft, Familiengeschichte zu erkennen und aufzuarbeiten», sagt der Büroleiter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Russland, Hermann Krause, bei der Beerdigung. Der Volksbund sucht Kriegstote im Ausland und kümmert sich auch um das Anlegen und Pflegen von Gräbern deutscher Soldaten beider Weltkriege im In- und Ausland.
Verwandte reagieren oft emotional bei Beerdigungen, weiß der ehemalige WDR-Korrespondent. Sein persönlich einprägsamster Moment sei die tränenreiche Entschuldigung der Tochter eines umgebetteten Wehrmachtssoldaten für das Leid gewesen, das Nazideutschland unter Diktator Adolf Hitler den Menschen in der damaligen Sowjetunion mit seinem brutalen Angriffskrieg zugefügt habe.
Diesmal sind jedoch keine Angehörigen dabei. Es ist nicht die beste Zeit, um nach Russland zu reisen. Und so steht nur ein kleines Aufgebot am Grab. Der Pastor der Petersburger Petrikirche, Michael Schwarzkopf, hält die Andacht und neben Krause steht die deutsche Generalkonsulin von St. Petersburg, Petra Kochendörfer. Sie sieht in den Toten den «Beweis, dass sich Krieg nicht wiederholen darf» und mahnt, dass der jetzt von Kremlchef Wladimir Putin begonnene Angriffskrieg gegen die Ukraine neues Leid und Zerstörungen bringe.
Krause wiederum erklärt die Gedenksteine am Rande des Massengrabs zu Mahnmalen, «sich nicht von Diktatoren verführen zu lassen». Und auch wenn er dabei explizit von Deutschen spricht, die sich von Hitler zu einem grausamen Eroberungskrieg mit Millionen Toten haben verführen lassen, ist die Kritik am jetzigen Kriegskurs Moskaus hörbar. Wohl auch wegen solcher Mahnungen sind russische Offizielle, die früher solchen Veranstaltungen beiwohnten, nicht gekommen.
Und trotzdem ist die Kriegsgräberfürsorge so etwas die letzte Brücke zwischen Russland und Deutschland. Eine zartgelbe russisch-orthodoxe Kirche mit graublauen Zwiebeltürmen steht am Rande des Friedhofs. Sie wurde auch mit 1,6 Millionen Euro an Spendengeldern des Volksbundes wiederaufgebaut. Und obwohl Putin öffentlich kritisierte, dass mit Deutschlands Waffenlieferungen an die angegriffene Ukraine wieder deutsche Panzer Russlands Sicherheit bedrohten, hat Moskau die Umbettung der Wehrmachtssoldaten erlaubt.
Mehr noch: Sologubowka, der mit Platz für 80.000 Gräber irgendwann zum größten deutschen Soldatenfriedhof in Europa werden soll, wird von den russischen Behörden in gutem Zustand gehalten. Denn Moskau ist seinerseits daran interessiert, dass auch die 4500 sowjetischen Soldatenfriedhöfe in Deutschland weiter gepflegt werden.
Die Arbeit des Volksbunds besitze sowohl in der russischen Gesellschaft als auch in der Politik einen hohen Stellenwert, «was so etwas wie eine Garantie für die Fortsetzung unserer Tätigkeit ist», sagt Krause. Auch wenn es zunehmend schwerer werde, von lokalen Verwaltungen Genehmigungen zum Exhumieren zu bekommen, sehe er dank des Kriegsgräberabkommens «keine aktuelle Behinderung».
Um diese Verständigung zu dokumentieren, haben Krause und seine Mitarbeiter vor der Beerdigung der Deutschen auch Blumen niedergelegt am Denkmal für die gefallenen Sowjetsoldaten an den nahegelegenen Sinjawino-Höhen, wo während des Zweiten Weltkriegs erbitterte Schlachten geschlagen wurden.
An den Höhen haben sich Dmitri Romaschko und Michail Pisarjew der Trauerzeremonie angeschlossen. Sie gehören der russisch-patriotischen Organisation Lenreserv an und sind seit Jahren mit der Suche nach sowjetischen Soldaten und deren Umbettung beschäftigt. Ein besonders ergiebiges Feld für ihre Ausgrabungen ergibt der sogenannte Newski Pjatatschok, ein Brückenkopf an der Newa südlich von Schlüsselburg, wo sowjetische Truppen die von Hitler befohlene grausame Blockade des damals Leningrad genannten Petersburg durchbrechen wollten.
Auf der rund einen Quadratkilometer großen Fläche starben damals Hunderttausende. Auch der Vater von Viktor Muchin, einem langjährigen Mitarbeiter des Volksbunds in Russland, hat hier gekämpft. «Jedes Mal, wenn ich hier vorbeifahre, macht mein Herz einen Sprung», sagt Muchin. Dreimal sei sein Vater an dieser Stelle bei der Verteidigung Leningrads verwundet worden. Bis Anfang 1944 dauerte die deutsche Blockade an. Mehr als eine Million Menschen kamen dabei ums Leben, die meisten von ihnen Zivilisten, die verhungerten oder erfroren. Heute gilt das als Kriegsverbrechen.
Am Newski Pjatatschok stoßen die Männer von Lenreserv heute noch auf menschliche Überreste. Jahrzehntelang haben diese dort in der Erde gelegen, ohne dass sich jemand darum kümmerte. Die Menschen hinter den vom Kreml gefeierten Vaterlandsverteidigern gerieten in Vergessenheit. Heute kann kaum noch jeder Zehnte identifiziert werden.
«In einer einzigen Stellung haben wir 37 Tote gefunden, darunter auch einen Deutschen», erinnert sich Romaschko. Die Gebeine des Wehrmachtssoldaten habe man dem Volksbund übergeben. Der Volksbund wiederum übergebe, wenn er bei eigenen Umbettungen auf die Überreste von sowjetischen Soldaten stoße, diese an Lenreserv.
Daraus habe sich eine gegenseitige Achtung und Partnerschaft entwickelt, meint Romaschko. Und auch wenn sie über die Ursachen des jetzigen Kriegs nicht übereinstimmen: als Pastor Schwarzkopf Mozarts Kanon «Dona nobis pacem - Gib uns Frieden» anstimmt, hören auch die Russen ergriffen zu.