Tragödie im Ärmelkanal: Neue Überfahrten und Schuldzuweisungen

Starben mindestens 27 Migranten auf dem Weg nach Großbritannien, als ihr Boot im Ärmelkanal sank. Der französische Innenminister sprach von der bisher größten Tragödie auf der gefährlichen Überfahrt. Foto: Gareth Fuller/Pa Wire/dpa
Starben mindestens 27 Migranten auf dem Weg nach Großbritannien, als ihr Boot im Ärmelkanal sank. Der französische Innenminister sprach von der bisher größten Tragödie auf der gefährlichen Überfahrt. Foto: Gareth Fuller/Pa Wire/dpa

CALAIS/LONDON: Der Schock über die Katastrophe im Ärmelkanal mit Dutzenden Toten ist groß. Doch am Tag nach dem Unglück gibt es nicht nur Aufrufe zur Kooperation. Eine Spur führt nach Deutschland.

Ungeachtet der Tragödie im Ärmelkanal mit mindestens 27 Toten haben sich erneut viele Menschen illegal auf den gefährlichen Weg nach Großbritannien gemacht. An der englischen Küste kamen am Donnerstag erneut Dutzende Migranten auf kleinen Booten an, wie britische Medien berichteten.

Die britische Regierung erhöhte den Druck auf Frankreich, die Überfahrten zu verhindern. Premierminister Boris Johnson forderte unter anderem ein Abkommen mit Paris zur Rückführung von Migranten. Das könne der «größte einzelne Schritt sein», um das Geschäftsmodell krimineller Schlepperbanden zu zerstören, schrieb der konservative Politiker am Donnerstagabend auf Twitter. Eine entsprechende EU-Regelung über die Rückführung von Asylsuchenden kann Großbritannien seit dem Vollzug des Brexits nicht mehr in Anspruch nehmen. Johnson veröffentlichte zudem am Abend einen dreiseitigen Brief an Macron mit weiteren Vorschlägen, darunter die Forderung nach gemeinsamen Patrouillen an französischen Stränden.

Am Mittwoch war ein Boot im Ärmelkanal vor der französischen Stadt Calais gekentert. Dabei starben mindestens 27 Menschen. Wie die BBC unter Berufung auf französische Ermittler berichtete, handelt es sich bei den Opfern um 17 Männer, sieben Frauen und drei Kinder. Der französische Innenminister Gérald Darmanin sagte, zwei Menschen hätten überlebt. Sie stammten aus Somalia und dem Irak. Die französischen Behörden nahmen fünf mutmaßliche Menschenschmuggler fest. Mindestens ein Verdächtiger kam aus Deutschland, wie Darmanin sagte. «Der Schleuser, den wir heute Nacht festgenommen haben, hatte deutsche Kennzeichen. Er hat diese Schlauchboote in Deutschland gekauft.»

Johnson warf Frankreich mangelnden Einsatz vor. Sein Sprecher wies auf die 62 Millionen Euro hin, mit denen Großbritannien die Kontrollen am Ärmelkanal unterstützt. Das Geld sei dafür gedacht, Migranten aufzuhalten, sagte der Sprecher. Das ehemalige Kabinettsmitglied Robert Jenrick sagte, es stehe in der Macht des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, das Problem zu beenden.

Nach Angaben Johnsons ist für Sonntag ein Treffen zwischen den Innenministerinnen und Innenministerin Großbritanniens, Frankreichs, Deutschland, der Niederlande und Belgiens geplant, um über die Situation am Ärmelkanal zu beraten.

In diesem Jahr sind bereits etwa 26.000 Menschen an der englischen Küste angekommen - drei Mal so viele wie im gesamten Vorjahr. «Wir sind bereit, Unterstützung vor Ort zu bieten», sagte der britische Innen-Staatssekretär Kevin Foster der BBC. «Wir sind bereit, Ressourcen zu bieten. Wir sind bereit, Personal zu schicken und den französischen Behörden zu helfen.» Das Geschäftsmodell der Menschenschmuggler müsse zerstört werden.

Französische Politiker lehnten die britische Forderung ab, eigene Beamte nach Frankreich zu schicken. Die Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, machte Johnsons harte Migrationspolitik für die Krise verantwortlich. Franck Dhersin, Vize-Präsident der Region Hauts-de-France, in der Calais liegt, forderte die britischen Behörden auf, härter gegen die Hintermänner der Schleuser vorzugehen. Diese lebten in London und verdienten Hunderte Millionen Euro.

Nach Angaben des Elysée-Palastes in Paris erwartet Präsident Macron, dass die Briten zu Zusammenarbeit bereit sind und das Flüchtlingsdrama nicht zu politischen Zwecken instrumentalisieren. «Frankreich wird nicht zulassen, dass der Ärmelkanal zu einem Friedhof wird», sagte Macron.

In Großbritannien kritisierten Menschenrechtler und Opposition die Einwanderungspolitik der Regierung. Anstelle scharfer Asylgesetze seien humane und sichere Wege nach Großbritannien nötig. Vor allem Innenministerin Patel steht unter Druck. Die konservative Hardlinerin hatte versprochen, die Überfahrten zu beenden. Nach dem Brexit führte die Regierung harte Zuwanderungsregeln ein, die Patel nun erneut verschärft will. So sollen Menschen, die illegal ins Land kommen, keinen Asylantrag mehr stellen dürfen.

Im Parlament verteidigte Patel Überlegungen, Boote mit Migranten auf offener See abzudrängen - sogenannte Pushbacks. Zugleich behauptete sie: «Das Vereinigte Königreich verfolgt einen geradlinigen und großzügigen Ansatz bei Asylsuchenden und Flüchtlingen.»

Die Zahl der Asylanträge in Großbritannien ist derzeit so hoch wie seit fast 17 Jahren nicht mehr. 37.562 Menschen hätten in den zwölf Monaten bis September Asyl erbeten, teilte das Innenministerium mit. Das ist fast ein Fünftel mehr als im Vorjahreszeitraum und etwas mehr als zum Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung 2015/16. Mit Stand Ende September 2021 warteten 67.547 Menschen auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag, so viele wie noch nie seit Beginn der Auswertung.

In Frankreich harren noch immer zahlreiche Migranten aus. Britische Medien zitierten mehrere Flüchtlinge, die trotz der Tragödie vom Vortag an ihren Plänen festhalten wollen. Die Meerenge zwischen Calais und der englischen Hafenstadt Dover gilt als eine der schiffreichsten Verkehrsstraßen der Welt.

Der britische Flüchtlingsrat sprach von einem «Weckruf» für die Regierung. Das Oberhaupt der anglikanischen Kirche, Justin Welby, forderte ein besseres Einwanderungssystem aus «Mitgefühl, Gerechtigkeit und Kooperation über Grenzen hinweg».

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