Frankreichs Regierung drückt Rentenreform durchs Parlament

Demonstrationen, nachdem die Regierung die Rentenreform ohne Parlamentsabstimmung durchgesetzt hat. Foto: epa/Yoan Valat
Demonstrationen, nachdem die Regierung die Rentenreform ohne Parlamentsabstimmung durchgesetzt hat. Foto: epa/Yoan Valat

PARIS: Wochenlang hat Frankreich über die Anhebung des Rentenalters gestritten. Nicht nur auf der Straße, auch im Parlament gab es erheblichen Widerstand gegen die Reform von Präsident Macron. Die Regierung hat nun zum Machtmittel gegriffen - mit Folgen.

Um eine Niederlage abzuwenden, hat Frankreichs Regierung eine umstrittene Rentenreform in letzter Minute ohne die abschließende Zustimmung des Parlaments durchgeboxt. Sie entschied am Donnerstag, das wichtigste Reformprojekt von Präsident Emmanuel Macron mit Hilfe eines Sonderartikels der Verfassung ohne Abstimmung in der Nationalversammlung umzusetzen. Premierministerin Élisabeth Borne schrie förmlich über die Rücktrittsforderungen der Opposition hinweg: «Diese Reform ist notwendig». Das Vorhaben zur Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre könnte theoretisch noch durch ein Misstrauensvotum gekippt werden.

Macron wollte Machtmittel eigentlich verhindern

Der Griff zum Sonderartikel ist für Macron und die Regierung ein Eingeständnis der Schwäche. Unermüdlich betonte das Kabinett zuletzt, eine Abstimmung zu wollen. Auf das Machtmittel wollten sie wenn irgend möglich verzichten, um der Reform mehr Legitimität zu geben und sich nicht als autoritär kritisieren lassen zu müssen.

Am Schluss fehlten Macron im Parlament wohl die nötigen Stimmen

Am Vormittag stimmte der Senat noch für die Reform, doch im Unterhaus sah die Sache wohl zu knapp aus. Ein Scheitern wäre für Regierung und Macron fatal gewesen. In letzter Minute vor der Sitzung der Nationalversammlung, berieten Macron und die Regierung erneut und entschieden, auf den Sonderartikel zurückzugreifen.

Das Mitte-Lager des Präsidenten hat in der Nationalversammlung seit der Parlamentswahl im Juni keine absolute Mehrheit mehr. Für die Reform setzte die Regierung auf die Unterstützung der konservativen Républicains. Bis zuletzt war jedoch unklar, ob ausreichend Abgeordnete der gespaltenen Fraktion das Vorhaben billigen würden. Einen Fraktionszwang wie in Deutschland gibt es nicht. Für Macrons nächste Vorhaben muss nun klar sein: auf die Konservativen kann er sich wohl nicht verlassen.

Tausende protestieren nach Regierungsentscheid

Nach der Entscheidung der Regierung, die Reform kurzfristig ohne eine Abstimmung voranzutreiben, strömten in Paris Tausende Menschen zu Protesten auf den Place de la Concorde im Zentrum. Holzpaletten wurden in Brand gesetzt, und die Bereitschaftspolizei rückte an. Auch in anderen französischen Städten kam es zu Protesten.

Regierung kann Sonderartikel nur begrenzt nutzen

Um Blockaden in wichtigen Angelegenheiten zu verhindern, kann die Regierung in Frankreich Vorhaben in sehr begrenztem Umfang ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung bringen. Die Zustimmung des Senats ist dennoch nötig. Zu dem Sonderartikel kann die Regierung in Haushaltsfragen greifen - wie nun bei der Rentenreform. Darüber hinaus darf sie das Mittel nur einmal pro Parlamentsjahr nutzen.

In trockenen Tüchern ist die Reform aber noch nicht ganz. Linke und Rechtsnationalen kündigten bereits Misstrauensanträge an. Dass die Regierung damit gestürzt wird, gilt aber als unwahrscheinlich.

Regierung will mit Reform drohende Lücke in Rentenkasse schließen

Derzeit liegt das Renteneintrittsalter in Frankreich bei 62 Jahren. Tatsächlich beginnt der Ruhestand im Schnitt aber später: Wer für eine volle Rente nicht lange genug eingezahlt hat, arbeitet länger. Mit 67 Jahren gibt es dann unabhängig von der Einzahldauer Rente ohne Abschlag - dies will die Regierung beibehalten, auch wenn die Zahl der nötigen Einzahljahre für eine volle Rente schneller steigen soll. Die monatliche Mindestrente will sie auf etwa 1200 Euro hochsetzen. Mit der Reform will die Regierung eine drohende Lücke in der Rentenkasse schließen.

Proteste auf der Straße werden andauern

Das Machtwort im Unterhaus könnte den Druck auf die Regierung von der Straße erhöhen. Seit Wochen gibt es Streiks und Demonstrationen gegen die Rentenreform. Immer wieder mobilisierten die Gewerkschaften Hunderttausende. Sie halten die Reform für brutal und ungerecht. Am Höhepunkt der Proteste beteiligten sich laut Innenministerium mehr als eine Million Menschen, die Gewerkschaft CGT sprach von 3,5 Millionen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Dass die Reform nun ohne die Stimmen der Abgeordneten umgesetzt werden soll, dürfte viele wütend machen und könnte Streiks bei der Bahn, in den Raffinerien oder bei der Müllabfuhr verschärfen. Die Gewerkschaften kündigten am Donnerstagnachmittag an, die Streiks fortzusetzen.

Macron ist angeschlagen

Obwohl Macron sich beim Gezerre um die Rentenreform auffällig im Hintergrund gehalten hat und einiges an Verantwortung nun auf Regierung und Opposition abwälzen kann, schadet ihm das Vorgehen auch persönlich. Zwar konnte er die Reform durchboxen, überzeugt hat er aber nicht. Seine Autorität ist angekratzt. Auch Sympathiepunkte muss er durch den Coup einbüßen. Dem Liberalen, der sich gerne als Reformer gibt, dürfte nun daran gelegen sein, sobald wie möglich ein neues Kapitel aufzuschlagen. Möglicherweise auch mit einer aufgefrischten Regierungsmannschaft. Vor ihm dürften nun vier durchaus komplizierte Jahre seiner verbleibenden Amtszeit liegen.

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Jürgen Franke 17.03.23 17:00
Herr Spiegel, völlig richtig, denn sicherlich
kann kein Mensch in "schweren Handwerksberufen" bis 67 arbeiten. Obwohl es heute sehr wenig Tätigkeiten gibt, die als körperlich schwer zu bezeichnen sind. Ich war bis 70 tätig. Grundsätzlich ist jedoch eine Reform der Rentenkassen erforderlich.
Helmut Spiegel 17.03.23 13:30
Rentenreform
Frankreich hat nur das nach vollzogen, was in Deutschland schon laenger geregelt ist., da auch dort
die Rentenkassen leer sind und es eine Anpassung geben musste. Alles dort ohne Proteste..
Fraglich nur, wer kann in schweren Handwerksberufen bis 67 arbeiten? Nun faselt man schon, arbeiten bis
70. .Das fuellt auch die Rentenkasse, da viele vorher sterben.