Farang, bist du chaosfähig?

Farang, bevor du ernsthaft mit dem Gedanken spielst, dich in Thailand niederzulassen, solltest du deine Chaosfähigkeit überprüfen. Du brauchst deshalb nicht zum Arzt zu gehen, oder dich mit „Resilientium chaoticum“ impfen zu lassen. Ein niedriger Blutdruck kann allerdings hilfreich sein, ansonsten genügt es vollkommen, diese Zeilen zu lesen und nach der Lektüre zu sagen: „Meine Rede, ich kann da jedes Wort unterschreiben“, oder „Gott bewahre, das werde ich mir nicht antun!“

Als ich in einem Selbstversuch meine Chaosfähigkeit ausloten wollte, erlebte ich erst mal einige Enttäuschungen mangels Herausforderungen. Die Maschine der Thai Airways war erschreckend pünktlich, die Abfertigung am Zoll entsprach Schweizer Normen, sogar der Bus, der mich in den Isaan bringen sollte, hatte keine nennenswerte Verspätung. Da hätte ich gerade so gut zuhause bleiben können. „Chaos, wo bist du?“, fragte eine verzweifelte Stimme in mir und: „Bitte prüfe mich im Hier und Jetzt!“

Erhörtes Stoßgebet

Mein Stoßgebet wurde erhört. Offenbar hatte sich Buddha höchstpersönlich für mich verwendet, denn der Bus stand augenblicklich still. Ein Stau, dachte ich, wenigstens das. Ich lehnte mich zurück, der Stress fiel von mir ab, wie eine alte Tapete von der Wand. Ein warmes Gefühl breitete sich aus, ich genoss diesen Zustand des „Nichts geht mehr“ wie ein Junkie den ersten Zug aus der Opiumpfeife. Nach etwa einer Stunde ruckelte der Bus angenehm entschleunigt weiter, nur um gleich wieder still zu stehen. Sind wir auf einem Parkplatz? fragte ich mich, als eine weitere Stunde vergangen war. Von wegen Parkplatz, links und rechts reichte die Sicht nur bis zur nächsten grauen Wand, die sich meterhoch über den Bus türmte – Lastwagenblachen soweit der Himmel reichte – wir waren in einer Wagenburg gefangen.

Dann holperte es wieder. Der Bus gewann an Fahrt, um Minuten später auf einem Parkplatz zu stoppen. Hier herrschte offenbar Kreisverkehr, der Fahrer suchte einen Parkplatz und fand keinen. Er sagte etwas auf Thai, worauf alle Mitreisenden ausstiegen, auf die Toilette rannten und zurückkehrten, während der Fahrer mit laufendem Motor sitzengeblieben war. Ich war einfach den anderen nachgerannt, das Chaos war perfekt, der Mix aus völliger Entschleunigung und „Running to the toilets“ belebend.

Als wir am Bestimmungsort mit sechs Stunden Verspätung ankamen, war meine Frau mit der Tochter zur Stelle, die Verspätung kein Thema. Wir setzten uns zu dritt auf das Motorrad und fuhren am Dorfpolizisten vorbei, der freundlich lächelte und grüßte. Ich fragte sie bei Gelegenheit, wann sie ihren Führerschein gemacht habe, mit 16 oder mit 18 Jahren? „Führerschein?“ Sie schaute mich an, wie man jemand anschaut, der noch an den Osterhasen glaubt. „Ich brauche keinen, die Kinder des Polizisten gingen bei mir zur Schule, ich wurde nie danach gefragt.“ Ich kombinierte haarscharf: Sie braucht keinen Führerschein und die Kinder des Polizisten im Gegenzug keinen Schülerschein, ist doch logisch. Im Isaan zählt Sein eben noch mehr als Schein.

Nach ein paar Wochen war meine Chaosfähigkeit fast auf thailändischem Niveau angelangt. Ich ignorierte die wenigen Verkehrsschilder und interpretierte sie nach Art der Einheimischen. Beispiel Einbahnstraße: Sie stehen meistens einer Abkürzung im Wege, das Schild wird als Hinweis genommen, doch bitte keine Zeit und keinen Sprit zu verschwenden und Gas zu geben. Beispiel Stoppschilder: Wenn ich je eines gesehen hätte, hätte ich es fotografiert. Wieso stoppen, wenn man sich lustvoll in den Verkehrsstrom einfädeln kann? It‘ s the rhythm, stupid!

Auf Motorrädern geboren

Den Thais wird auch immer vorgeworfen, dass sie zu dritt oder zu viert auf dem Motorrad sitzen. Das hat einen einfachen Grund: Sie werden auf Motorrädern geboren. Es hat nur einen Nachteil: Die Kinder lernen nie laufen, so sind denn auch keine Thais zu Fuß unterwegs. Fußgänger erkennt man daran, dass sie keine Thais sind.

Am Anfang habe ich noch darauf bestanden, dass alle einen Helm tragen, aber einer fehlt immer, ist gerade nicht greifbar oder defekt. Fazit: Auch meine Sicherheitsbedenken werden Zug um Zug aufgeweicht, ich entschweizere zusehens, meine Chaosfähigkeit ufert aus.

Mord und Totschlag wegen TM 30

Um das Chaos einzudämmen, unternehmen die Behörden hin und wieder rigorose Anstrengungen. Selbstverständlich nicht gegen die eigenen Leute, das Chaos wurde schließlich von den Farangs eingeschleppt und dann von Ausbeutern wie mir genüsslich im unschuldigen Land ausgelebt. Um das Übel an den Wurzeln zu packen, müssen diese subversiven Elemente akkurat erfasst, regis­triert und überwacht werden. Das Formular dazu trägt die Bezeichnung TM 30 (TM für „Thai Mess“, 30 ist die Abkürzung für die 30.000-Baht-Buße* bei Nichtbeachtung). In diesem Dokument werden die Hotel- und Hausbesitzer aufgefordert, jeden Ausländer, der sich bei ihnen aufhält, innert 24 Stunden zu melden.

Mein Schwiegervater im Isaan wird sich also bei meinem Besuch aus dem Dschungel bequemen müssen, fünf Stunden für das Formular bei der Gemeindekanzlei anstehen, es wegen fehlerhafter Ausführung – er kann sich meinen Namen nicht merken – mehrmals zwecks Korrektur zurückerhalten, um Mitternacht erschöpft nach Hause kommen und mich mit letzter Kraft erwürgen.

(* Kleiner Scherz des Kolumnisten! Die Buße beträgt natürlich 2.000 Baht für Privatpersonen und 10.000 Baht für Hotels!)


Über den Autor

Khun Resjek lebt mit seiner thailändischen Frau und Tochter in Hua Hin. Seine Kolumne „Thailand Mon Amour“ illustriert auf humorvolle Weise den Alltag im „Land des Lächelns“ aus der Sicht eines Farang und weist mit Augenzwinkern auf das Spannungsfeld der kulturellen Unterschiede und Ansichten hin, die sich im Familienalltag ergeben. Ein Clash der Kulturen der heiteren Art, witzig und prägnant auf den Punkt gebracht.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.

Leserkommentare

Vom 10. bis 21. April schließen wir über die Songkranfeiertage die Kommentarfunktion und wünschen allen Ihnen ein schönes Songkran-Festival.

Ernst Hoehn 21.09.19 11:55
der autor..
..wird sich das nächste mal überlegen müssen, ob er seine nächste geschichte mit vermerk "achtung, kann ironie enthalten" beginnt. einige kommentarschreiber nehmen das ganze doch etwas zu ernst.
Juergen Bongard 15.09.19 16:56
H.Wopalensky hat
vollkommen Recht. Ich wohne zwar erst seit knapp 3 Jahren im Isaan, erlebe aber immer wieder, dass es hier vollkommen sinnvoll vorgeht. Auch hier gibt es Stoppschilder, Einbahnstrassen und das wird auch -meistens- eingehalten. Vollkommen vorbildlich ist es vor Schulen mit den beschriebenen blinkenden 30er Schilder und oft sogar sind Polizisten da, die bei Schulschluss aufpassen. Den beschriebenen Stau im Bus können sie jederzeit in Deutschland auch haben. Kein Problem. Ich habe aber auch den Eindruck, dass besonders Schweizer überkritisieren.Ich habe Verwandte dort und erlebe immer wieder, dass jeder Fleck geregelt ist. Nervt mich immer. Mann muss immer Bitte sagen, wenn z.B. in einer Bäckerei eingekauft wird. Das können sie nicht nach Thailand übertragen, denn dann geraten sie in ein kulturelles Chaos.
Jürgen Franke 15.09.19 13:14
Eine sehr schöne Geschichte, die eigentlich
in jedem Reiseführer für Thailand stehen sollte. Interessant auch für die zugereisten Ausländer, die nicht vermeiden können, bei jedem Redaktionsbericht Thailand mit Deutschland oder Österreich vergleichen zu müssen
Hans Wopalensky 15.09.19 13:13
Irreführend
Das Chaos an einem defekten Bus festzumachen, erscheint mir nicht treffend genug. Das Chaos spielt sich vielmehr im täglichen Zusammenleben ab. Termine werden nicht gehalten, besprochene Preise sowieso nicht, Garantie ist oft schon beim Verlassen des Ladens vorbei (nicht bei Markenartikeln) oder im Straßenverkehr.
Die vom Verfasser genannten Beispiele treffen hier - ich wohne seit ca 6 Jahren im Isaan - nur teilweise zu. Natürlich fahren die meisten Thais ohne Helm und oft zu viert oder fünft!!! auf einem Motorbike. Sie kommen einem auch auf der falschen Straßenseite entgegen, schneiden Kurven etc.
Aber es gibt jede Menge Stoppschilder, die Strassenmarkierungen sind viel ausgeprägter als in Europa und durchgehend vorhanden. An Schulen stehen einige 100m davor 50er Schilder, die Strasse selbst ist mit weißen und roten Farben sehr auffällig bemalt , es gibt beleuchtete bzw blinkende 30er Hinweise und blinkende Smilies, wenn man schneller bzw langsamer fährt. dass sich niemand an die 50 oder 30 hält ist eine andere Sache. Dass manche Markierungen unsinnig bzw offensichtlich falsch sind, ebenfalls (durchgehende doppelte Sperrlinien, obwohl man zum Abbiegen diese überqueren muss. Der Straßenbelag ist bei neuen Straßen oft nach einigen Wochen kaputt und weist kurz danach tlw tiefe Löcher auf. Warnschilder werden deshalb aber nicht aufgestellt.
Das nenne ich - neben dem Chaos in den Familien.
im Übrigen sei der Autor darauf hingewiesen, dass HuaHin nicht im Isaan liegt.
Ireen Spycher Wuerth 15.09.19 09:51
Ach, wie herrlich!
Lieber Khun Resjek, wie wahr und humorvoll sie die thaiändische Entschleunigung beschrieben haben. Auch ich bin schon weitgehend entschweizert und jedes Mal, wenn ich in die Schweiz komme, erst mal so was wie orientierungslos! Ich kann nur sagen: Ein Hoch dem Chaos, hat man es mal intus, fällt einem das Leben hier erstaunlich leicht! Danke, für ihre Artikel!