Anklage gegen Premier erhoben

Foto: epa/Wael Hamzeh
Foto: epa/Wael Hamzeh

BEIRUT: Im August erschütterte die gewaltige Explosion im Hafen von Beirut den Libanon. Noch immer gibt es keine Gewissheit, wie es dazu kommen konnte. Jetzt richten sich die Vorwürfe gegen hochrangige Politiker.

Mehr als vier Monate nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut hat ein libanesischer Ermittlungsrichter Anklage gegen den amtierenden Regierungschef Hassan Diab und drei Ex-Minister erhoben. Ihnen werde Fahrlässigkeit und Mitschuld an der großen Zahl der Opfer vorgeworfen, hieß es am Donnerstag aus Justizkreisen in der Hauptstadt. Die vier Beschuldigten sollen nächste Woche zu den Vorwürfen befragt werden. Danach fällt die Entscheidung, ob sie vor Gericht müssen. Diab zeigte sich in einer ersten Reaktion überrascht.

Bei der Explosion am 4. August waren mehr als 190 Menschen getötet und mehr als 6000 verletzt worden. Große Teile des Hafens sowie der umliegenden Wohngebiete wurden stark zerstört. Ausgelöst worden sein soll die Detonation durch große Mengen der hochexplosiven Chemikalie Ammoniumnitrat, die über Jahre ungesichert im Hafen gelagert worden waren. Angehörige der Opfer und Kritiker beschuldigen die Regierung, davon gewusst, aber nichts unternommen zu haben. Zudem klagen sie, die Ermittlungen seien bisher weitestgehend ergebnislos geblieben.

Das Büro des Regierungschefs teilte in einer kurzen Erklärung mit, Diab habe ein «reines Gewissen». Er sei überzeugt, dass seine Hände sauber seien und er verantwortungsvoll gehandelt habe. Diab hatte erst sieben Monate vor der Explosion ein Kabinett bilden können.

Neben dem Premier wurde die Anklage auch gegen Ex-Finanzminister Ali Hassan Chalil sowie zwei ehemalige Minister für Öffentliche Arbeiten erhoben. Gegen den schiitischen Politiker Chalil hatten die USA im September Sanktionen erlassen. Sie werfen ihm vor, die eng mit dem Iran verbundene schiitische Hisbollah-Organisation zu unterstützen.

Der Ministerpräsident und seine Regierung hatten kurz nach der Explosion ihren Rücktritt erklärt und sind nur noch geschäftsführend im Amt. Dem mit der Regierungsbildung beauftragten Politiker Saad Hariri ist es bislang wegen interner Machtkämpfe zwischen den führenden Blöcken nicht gelungen, ein neues Kabinett zu bilden.

Der Libanon erlebt seit Monaten eine der schwersten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte und braucht dringend ausländische Hilfe. Die Corona-Pandemie und die Explosion haben die Lage weiter verschärft. Große Teile der Bevölkerung sind in Armut abgerutscht.

Weil dem Land die Devisenvorräte ausgehen, will die Regierung Subventionen für Importgüter kürzen. Das libanesische Pfund hat in den vergangenen Monaten gegenüber dem US-Dollar mehr als 80 Prozent seines Wertes verloren. Die Inflation liegt nach Angaben des libanesischen Statistikamtes bei mehr als 130 Prozent. Beobachter warnen vor sozialen Unruhen, sollten Subventionen gekürzt werden.

Deutschland, Frankreich und andere europäische Staaten sind bereit, dem Libanon in der Krise zu helfen, verlangen aber als Bedingung weitgehende politische Reformen. Dazu zählt nicht zuletzt ein härteres Vorgehen gegen die weit verbreitete Korruption. Kritiker werfen der politischen Elite vor, sie habe das Land ausgebeutet und klammere sich an die Macht. Vor mehr als einem Jahr war eine Welle von Anti-Regierungsprotesten im Libanon ausgebrochen.

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