Ex-Guerillero Favorit bei Präsidentenwahl

Gustavo Petro, Präsidentschaftskandidat der Koalition des Historischen Paktes. Foto: epa/Carlos Ortega
Gustavo Petro, Präsidentschaftskandidat der Koalition des Historischen Paktes. Foto: epa/Carlos Ortega

BOGOTÁ: Einst kämpfte Gustavo Petro gegen den kolumbianischen Staat, nun ist er selbst auf dem Weg ins Präsidentenamt. In Umfragen vor dem ersten Wahlgang am Sonntag liegt der 62-Jährige vorne. Bekommt das traditionell konservative Kolumbien erstmals einen linken Staatschef?

Die Inspiration für seinen Kampfnamen stammte aus der Literatur: «Comandante Aureliano». Nach einer der Hauptfiguren des Romans «Hundert Jahre Einsamkeit» von Kolumbiens Nobelpreisträger Gabriel García Márquez nannte Gustavo Petro sich, als er der Bewegung M-19 beitrat. «Comandante Aureliano» ist eine tragische Figur, der Kommandant der 1000 verlorenen Schlachten.

Doch Petro, der damals in den 1970er Jahren gegen den kolumbianischen Staat kämpfte, will gewinnen. Der Ex-Guerillero und frühere Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá ist mit einem Anti-Establishment-Diskurs und dem Versprechen, das staatliche Engagement in der Wirtschaft zu verstärken, auf dem Weg ins Präsidentenamt.

Petro führt in jüngsten Wahlumfragen vor dem Kandidaten der Rechten, Federico Gutiérrez, und dem Parteilosen Rodolfo Hernández. Die Tendenz geht nach derzeitigem Stand dahin, dass er im ersten Durchgang am Sonntag nicht mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten dürfte. In einer Stichwahl sollte ihm jedoch auch nur Hernández gefährlich werden können, dem sich nach ihrem Ausstieg aus dem Rennen um die Präsidentschaft jüngst die Ex-Farc-Geisel Ingrid Betancourt anschloss. So könnte der 62-Jährige der erste linke Staatschef Kolumbiens werden.

Auch Petros Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin, die afro-kolumbianische Umweltaktivistin Francia Márquez, ist ein politisches Phänomen. Die Frau aus einer ländlichen Gegend, die im Department Cauca gegen illegale Goldsuche kämpfte und mehrmals bedroht wurde, bekam bei den Vorwahlen im März die zweitmeisten Stimmen hinter Petro.

Die Linke war bereits aus der Parlamentswahl in Kolumbien am 13. März, die auch als Stimmungstest für die Präsidentenwahl galt, gestärkt hervorgegangen. Dabei ist das südamerikanische Land traditionell konservativ geprägt. Seit langem regieren für gewöhnlich Politiker, die gute Kontakte zu wohlhabenden Familien und mächtigen Wirtschaftsgruppen haben. Die soziale Ungleichheit ist zwar groß. Aber auch, weil Kolumbien mehr als 50 Jahre unter einem bewaffneten Konflikt litt, tut sich die Linke durch eine angebliche politische Nähe zur Farc-Guerilla schwer.

Petro, dem Gegner zudem nachsagen, ein Populist im Stile des 2013 verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez zu sein, kämpft seit Jahren gegen all diese Widrigkeiten. Dies ist seine dritte Kandidatur. 2010 kam er mit nicht einmal zehn Prozent auf den vierten Platz. Von 2011 bis 2015 war er Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá, wobei er umstritten war und nach einem Skandal sogar seines Amtes enthoben wurde. 2018 unterlag er in der Stichwahl dem konservativen Iván Duque, der nun nicht mehr antreten darf. Die Verfassung sieht eine Wiederwahl des Staatschefs nicht vor.

«Die große Frage 2022 ist, ob Petro - und Kolumbien selbst - sich genug verändert haben, dass das Ergebnis diesmal anders ausfallen könnte», schrieb die US-Publikation «Americas Quarterly». Sie lieferte einen Teil der Antwort gleich mit: «Es scheint wirklich ein anderes Kolumbien zu sein.» Eines, das unzufrieden ist und das zum Ausdruck bringt.

Wegen einer umstrittenen Steuerreform demonstrierten im vergangenen Jahr Tausende Kolumbianer für gesellschaftlichen Wandel und echte Reformen, wobei die Polizei unverhältnismäßige und zuweilen tödliche Gewalt anwendete. Arbeitslosigkeit und Inflation sind nach der Corona-Pandemie hoch, Armut und Hunger groß.

Kolumbien ist nach Brasilien das zweitbevölkerungsreichste Land sowie der wichtigste Verbündete der USA in Südamerika. 52 Jahre herrschte ein Bürgerkrieg, 220.000 Menschen kamen ums Leben, Millionen wurden vertrieben. 2016 schloss die kolumbianische Regierung einen Friedensvertrag mit der linken Farc-Guerilla, die Hoffnung auf einen Aufschwung war groß. Doch die Gewalt ist vor allem in ländlichen Gebieten zurück.

Tausende Abtrünnige der Farc kämpfen mit Verbrechersyndikaten, die ebenfalls ins Drogengeschäft verwickelt sind, in früheren Farc-Gebieten um Einfluss. Der sogenannte Golf-Clan zeigte erst kürzlich - nach der Auslieferung des Drogenbosses Otoniel an die USA -, dass er ganze Landstriche unter Kontrolle hat. Er schränkte den Verkehr und den Handel ein und drohte denjenigen, die dennoch unterwegs waren.

Während Kritiker Präsident Duque vorwerfen, den Friedensvertrag bestenfalls halbherzig umzusetzen, ist es Petros Ziel, die Farc-Dissidenten und auch die kleinere ELN-Guerilla zu entwaffnen, wie sein Wahlkampfstratege Alfonso Prada sagte. Die kriminellen Banden sollten vor ein Sondergericht kommen, um so einen umfassenden Frieden zu erreichen.

Eine weitere Gewalteskalation will Petro verhindern, indem er Arbeitsplätze auf dem Land schafft. Auch möchte er das Wirtschaftsmodell verändern, etwa die Ölförderung bremsen und die Einnahmen durch den Tourismus und höhere Unternehmenssteuern ersetzen. Kohle und Öl bezeichnete er wie Kokain als Gifte. Mit dem kolumbianischen Präsidenten Iván Duque telefonierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) aufgrund des Ukraine-Kriegs vor kurzem wegen einer möglichen Erhöhung der Kohle-Exporte.

Kritiker halten Petros Pläne ohnehin für unrealistisch und befürchten, dass er Kolumbiens marktfreundliches Modell ins Wanken bringt. Petro reagiert darauf mit symbolischen Gesten, etwa, indem er in einem Notariat versprach, kein Eigentum verstaatlichen zu wollen. Er muss einiges tun, um den Wählern die Angst vor dem früheren «Comandante Aureliano» zu nehmen - das Image des Guerillero, es haftet ihm immer noch an.

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