EU-Kommissar zu Türkei-Hilfen

 EU-Kommissar Johannes Hahn. Foto: epa/Stephanie Lecocq
EU-Kommissar Johannes Hahn. Foto: epa/Stephanie Lecocq

BRÜSSEL (dpa) - Deutschland und die Türkei rücken trotz Spannungen wieder näher zusammen. Ist das auch ein Signal für die EU? Der zuständige EU-Kommissar fordert, den unschönen Tatsachen ins Auge zu blicken - und daraus Konsequenzen zu ziehen.

Die vorsichtige Wiederannäherung zwischen Deutschland und der Türkei wird in Brüssel aufmerksam beobachtet. Können die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vielleicht bald schon weitergehen? Im Interview der Deutschen Presse-Agentur warnt der zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn (60) vor solchen Erwartungen und fordert die EU-Staaten auf, an einer «realistischeren Form der Beziehungen» zu arbeiten. Deutschland und andere EU-Staaten kritisiert er zugleich für Forderungen zu Türkei-Hilfen.

Frage: Herr Kommissar Hahn, zwischen Deutschland und der Türkei scheinen sich die Beziehungen derzeit wieder etwas zu entspannen. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel hat seinen türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu jüngst sogar zu sich nach Hause eingeladen. Haben Sie Hoffnung, dass dadurch auch auf EU-Ebene der Umgang mit der Türkei wieder etwas einfacher werden könnte?

Antwort: Es ist sicher zu begrüßen, wenn die Türkei anstrebt, mit einzelnen Mitgliedstaaten wie auch mit der EU insgesamt wieder zu einem konstruktiven Dialog zurückzukehren. Ich habe selbst immer betont, dass die Türkei für die EU ein sehr wichtiger strategischer Partner ist. Gleichzeitig ist eine Charmeoffensive alleine nicht ausreichend. Was zählt, sind die Fakten vor Ort, und diese haben sich leider noch nicht geändert.

Frage: Das heißt konkret?

Antwort: Die Situation im Bereich der Rechtsstaatlichkeit hat sich nicht verbessert. Nach wie vor sind Zehntausende Menschen - Journalisten, Anwälte, Akademiker, Staatsbedienstete - in Haft oder ihrer Existenz beraubt. Deswegen würde ich es begrüßen, wenn die Mitgliedstaaten sich mit der Frage auseinandersetzen, wie eine strategische Partnerschaft mit der Türkei aussehen könnte - so wie es auch der französische Präsident Macron beim Treffen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan angeregt hat. Der EU-Beitrittsprozess ist ja auf Beschluss der Mitgliedstaaten bereits zum Stillstand gekommen. Deswegen wäre es für beide Seiten produktiver, an einer realistischeren Form der Beziehungen zu arbeiten.

Frage: Müsste die EU-Kommission nicht eigentlich die EU-Beitrittsverhandlungen aussetzen? In den Verhandlungsleitlinien steht, dass dies passieren sollte, wenn die Türkei zum Beispiel «ernsthaft und anhaltend» gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstößt.

Antwort: Wir werden im April eine objektive Analyse in Form des Länderberichts zur Türkei vorlegen. Dem möchte ich jetzt nicht vorgreifen.

Frage: Macht sich die Kommission nicht unglaubwürdig, wenn sie wegen Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit gegen Polen vorgeht, nicht aber gegen die Türkei? Sollten in diesem Fall nicht Regeln Regeln sein - auch wenn natürlich Polen ein EU-Staat ist und die Türkei nicht?

Antwort: Die EU hat auf die unhaltbare Situation im Bereich der Rechtsstaatlichkeit durchaus angemessen reagiert, indem sie den Beschluss gefasst hat, keine weiteren Verhandlungskapitel mit der Türkei zu öffnen. Daneben wurden finanzielle Mittel aus der Vorbeitrittshilfe zugunsten der Zivilgesellschaft umgeschichtet - beziehungsweise in anderen Sektoren deutlich reduziert. Daher kann ich den Vorwurf, die EU sei unglaubwürdig, nicht nachvollziehen. Wir dürfen auch nicht vergessen: Die Türkei ist nicht Erdogan. Mit der Türkei im Dialog zu bleiben ist nicht nur zur Stabilisierung des Landes wichtig, sondern auch, um jenen Menschen, die proeuropäisch orientiert sind - und das sind immerhin etwa die Hälfte, wie das Referendum gezeigt hat - zu signalisieren, dass wir uns nicht von ihnen abwenden. Wenn wir zum Beispiel in eine Erweiterung der EU-Türkei-Zollunion investieren, käme dies der eindeutig pro-europäischen Unternehmerschaft zugute. Aber es liegt an den Mitgliedstaaten, uns das Mandat für die Verhandlungen zu erteilen.

Frage: Ein anderes Thema: Ist es richtig, dass die ersten drei Milliarden Euro, die die EU der Türkei für die Versorgung von Flüchtlinge aus Syrien zugesagt hat, komplett verplant sind?

Antwort: Das ist richtig. Von den zugesagten drei Milliarden Euro sind bereits fast zwei Milliarden Euro ausbezahlt worden, der Rest ist an laufende Projekte gebunden. Das heißt, die entsprechenden Zahlungen werden in den kommenden Monaten erfolgen, nach erbrachter Leistung für Flüchtlinge.

Denn das Geld geht ja nicht einfach an die Türkei. Diese Bilanz zeigt, dass die EU ihre Zusagen zur Gänze eingehalten hat. Auch die Türkei ist ihren Verpflichtungen nachgekommen. Der Flüchtlingsstrom über die östliche Mittelmeerroute ist nun fast vollständig reduziert worden, der menschenverachtenden Schlepperei wurde das Handwerk gelegt, viele tragische Todesfälle konnten vermieden werden. Die erfolgreiche Vereinbarung ist auch ein Beispiel dafür, dass es Sinn macht, in Bereichen des gemeinsamen Interesses mit der Türkei zu kooperieren.

Frage: Die EU-Staaten haben der Türkei bereits vor zwei Jahren versprochen, bis Ende 2018 weitere drei Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Die Zusage erfolgte allerdings, bevor die Regierung in Ankara damit begann, Oppositionspolitiker und Journalisten wegen des Verdachts der Terrorpropaganda oder Volksverhetzung in Gefängnis zu stecken. Wird das Geld trotz der anhaltenden Spannungen mit der Regierung in Ankara fließen?

Antwort: Man muss zwei Dinge unterscheiden: einerseits die regulären Vorbeitrittshilfen, die an klare politische Kriterien gebunden sind und die wir bereits deutlich umgeschichtet und reduziert haben. Und andererseits die drei Milliarden aus einem eigenen Fonds, der EU-Fazilität, die nicht der Regierung, sondern direkt den syrischen Flüchtlingen zugutekommen. Mehr als die Hälfte geht in humanitäre Hilfe, der Rest in Bildung und Ausbildung, medizinische Versorgung und lokale Infrastruktur. Ohne diese Unterstützung hätte die Türkei diese Last nicht schultern können, mit allen damit verbundenen Konsequenzen auch für die EU. Was die zweite Tranche betrifft: Das werden die EU-Staaten diskutieren. Zuvor muss natürlich beurteilt werden, in welchen Bereichen überhaupt noch Unterstützung nötig ist. Der Betrag wird auf jeden Fall eindeutig den Flüchtlingen zugeordnet bleiben.

Frage: Die ersten drei Milliarden Euro wurden zu zwei Dritteln durch Extra-Beiträge von den Mitgliedstaaten finanziert und nur zu einem Drittel aus dem Gemeinschaftshauhalt. Nun fordern Länder wie Deutschland, Österreich, Frankreich und Schweden in einem internen Papier, die zweite Drei-Milliarden-Euro-Tranche ausschließlich über den EU-Haushalt zu finanzieren. Was halten Sie davon?

Antwort: Der EU-Haushalt ist gedeckelt, wir schreiben kein Defizit und können keine Schulden machen - und das ist sehr gut so. Das heißt aber auch, dass verschiedene internationale Krisen - Libyen, Syrien, Flüchtlinge, die Ukraine etc. - miteinander um EU-Hilfsgelder «konkurrieren». Wenn Mitgliedstaaten immer neue Leistungen - die sie selbst einstimmig beschlossen haben - durch den EU-Haushalt finanziert haben wollen - dann sollen sie doch bitte auch sagen, wo diese Gelder herkommen sollen, beziehungsweise bei welchen anderen Partnerländern ich Einsparungen vornehmen soll. Anders gesagt: Der EU-Haushalt wird natürlich auch bei einer möglichen Fortführung der Türkei-Fazilität seinen Beitrag leisten - aber drei Milliarden alleine zu stemmen, halte ich für unmöglich und falsch.

Frage: Sehen Sie das Risiko, dass die Türkei wieder deutlich mehr Syrer illegal in Richtung Europa reisen lässt, wenn die EU das Geld nicht zahlt?

Antwort: Ich halte nichts von dieser Angstdebatte, denn Europa lässt sich nicht erpressen. Die EU ist viel besser vorbereitet als vor drei Jahren. Und zweitens glaube ich, dass die Türkei selbst kein Interesse daran hat, solche Spiele zu spielen, sondern vielmehr gut integrierte Syrer im Land behalten möchte. Ein Großteil der Syrer will entweder in der Türkei bleiben oder, sobald dies möglich ist, nach Syrien zurückgehen.

ZUR PERSON: Der Österreicher Johannes Hahn ist seit 2010 Mitglied der EU-Kommission. Nach vier Jahren als EU-Kommissar für Regionalpolitik bekam er 2014 die Zuständigkeit für die Europäische Nachbarschaftspolitik und die Erweiterungsverhandlungen. Hahn ist Mitglied der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Für sie war er in seiner Heimat unter anderem Wissenschaftsminister. Hahn ist 60 Jahre alt und Vater eines erwachsenen Sohnes.

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