HANNOVER: Die Zahl der Jugendlichen mit Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie ist einer neuen Untersuchung zufolge bundesweit gestiegen - besonders in der Corona-Pandemie. Vor allem bei 12- bis 17-jährigen Mädchen und Frauen gab es einer Studie der KKH Kaufmännische Krankenkasse zufolge zwischen 2020 und 2021 einen massiven Anstieg um über 30 Prozent. Einer der Gründe - neben der Pandemie: «Fake-Ideale» und die Flut von Bildern vermeintlich makelloser Menschen auf Social-Media-Plattformen.
2021 litten 17,6 von 1000 Menschen in dem Alter an einer Essstörung, ein Jahr zuvor waren es 13,4 und im Vor-Corona-Jahr 2019 noch 12,9 von 1000 Jugendlichen, wie aus den Daten der KKH in Hannover hervorgeht. 2011 waren es 11 von 1000. Laut Hochrechnung dürften bundesweit etwa 50.000 Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren von einer Essstörung betroffen sein - die meisten davon Mädchen und junge Frauen. Unter den Versicherten der KKH gab es 2021 insgesamt 10.100 Fälle, unter den 12- bis 17-Jährigen waren es 1017 Betroffene, davon 802 Frauen. Die KKH ist mit mehr als 1,6 Millionen Versicherten eine der großen bundesweiten Krankenkassen.
Die Dunkelziffer sei hoch, die Daten bildeten nur ärztlich diagnostizierte Fälle ab. Allein 2017 starben nach Angaben des Statistischen Bundesamts 78 Menschen in Deutschland an Essstörungen, ein Drittel mehr als im Jahr zuvor. Dazu zählen Magersucht, bei der Menschen bis zu einem lebensbedrohlichen Untergewicht hungern, Bulimie oder Ess-Brech-Sucht, bei der Betroffene nach Essattacken erbrechen oder Abführmittel missbrauchen, um nicht zuzunehmen, und die Binge-Eating-Störung mit unkontrollierbaren Essattacken, die Übergewicht oder Adipositas, also Fettleibigkeit, auslösen können.
«Die Gründe für eine Essstörung sind vielfältig und reichen von traumatischen Erlebnissen wie Missbrauch über familiäre Konflikte bis hin zu Leistungsdruck und Mobbing», erklärte KKH-Psychologin Franziska Klemm. Eine Rolle spielten auch Social-Media-Plattformen, die ein «unrealistisches und gefährliches Körperideal» zeichneten: «Solche Vorbilder können die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben und auch dem eigenen Körper forcieren», sagte sie. «Das kann die Entwicklung eines gestörten Essverhaltens begünstigen, vor allem, wenn Jugendliche bereits unter psychischen Problemen leiden oder einen geringen Selbstwert haben.»
In der Corona-Pandemie hätten Kinder und Jugendliche sich stärker mit sozialen Medien beschäftigt. «In den Lockdownphasen fehlte ihnen vor allem der Realitätsbezug und somit auch der Vergleich, wie Freunde und Mitschüler im echten Leben ohne Filter aussehen», erklärte Klemm. Der Austausch untereinander und ein geregelter Alltag seien den Beschränkungen der Pandemie zum Opfer gefallen. «Das sind alles haltgebende Strukturen, die vor allem in der Pubertät wichtig sind», sagte sie. Kinder und Jugendlichen hätten teils versucht, den «Kontrollverlust zu kompensieren, indem sie sich selbst kontrollieren, zum Beispiel mit Diäten und Sport».
Christine Joisten, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindesalter, geht nach früheren Angaben besonders im Falle der Fettleibigkeit von einem dauerhaften Effekt aus: «Die Welt ändert sich ja nicht», sagte sie. Zwar habe die Pandemie die Rolle der digitalen Beschäftigung «hochgespült», aber schon vorher hätten sich Kinder wenig bewegt - und auch Lebensmittel mit vielen Kalorien habe es bereits gegeben.
Essstörungen sind nach Angaben der Krankenversicherung nach wie vor ein vor allem weibliches Phänomen. Zwischen 2020 und 2021 sei der Anteil der jungen Frauen unter den betroffenen 12- bis 17-Jährigen von 75,7 Prozent auf 78,9 Prozent gestiegen, in den meisten anderen Altersgruppen liege der Anteil über 80 Prozent. Meist beginne die Krankheit in der Pubertät - Mädchen kämen immer früher in diese Phase, daher komme es eher zu Essstörungen. Für Mädchen sei zudem die eigene Wirkung im Netz wichtiger als für Jungen.
Dennoch sei der Anstieg bei den Essstörungen in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen unter Männern höher gewesen - 2021 registrierte die Krankenversicherung bei den Männern dieses Alters ein Plus von 18,7 Prozent, bei den Frauen waren es 12,4 Prozent. Die KKH warnte, Bulimie und Magersucht seien schwere psychische Erkrankungen, die mit Angststörungen, Depressionen oder Sucht einhergingen. Wer daran leide, dem falle es oft schwer, sich einzugestehen, Hilfe zu brauchen, sagte Klemm. «Dies ist aber ein ganz wichtiger Schritt für die Genesung.»