Türkei entscheidet in Stichwahl

Erdogan vs. Kilicdaroglu - Kampf um Präsidentschaft

Wahlkampfveranstaltung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Istanbul. Foto: epa/Erdem Sahin
Wahlkampfveranstaltung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Istanbul. Foto: epa/Erdem Sahin

ISTANBUL: Die Türkei stimmt am Sonntag in einer entscheidenden Stichwahl über ihren zukünftigen Präsidenten ab. Der 69-jährige Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan gilt als Favorit. Er hatte bei der ersten Runde der Wahl vor zwei Wochen zwar die meisten Stimmen erhalten, verpasste die nötige absolute Mehrheit aber knapp. Er tritt nun gegen den 74-jährigen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu in einer Stichwahl an.

Rund 61 Millionen Menschen sind zur Stimmabgabe aufgerufen. Türkische Staatsbürger in Deutschland haben bereits abgestimmt. Die Wahlen gelten grundsätzlich als frei, aber nicht fair. Am Sonntag jähren sich auch die regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013.

Das Thema Migration hatte vor dem Hintergrund einer zunehmend feindlichen Stimmung gegen Flüchtlinge großen Stellenwert im Wahlkampf. In der Türkei leben nach offiziellen Angaben rund 3,4 Millionen syrische Flüchtlinge. Die Wahl findet zudem vor dem Hintergrund einer Währungskrise und den verheerenden Erdbeben im Februar statt.

Kilicdaroglu ist Chef der sozialdemokratischen Partei CHP und tritt für ein breites Bündnis aus sechs Parteien an. Erdogan wurde 2003 Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident. Seit der Einführung eines Präsidialsystems vor fünf Jahren hat er weitreichende Befugnisse.

Die Abstimmung wird von internationalen Beobachtern der OSZE und des Europarats verfolgt. Die Wahllokale öffnen um 8.00 Uhr Ortszeit (7.00 Uhr MESZ) und schließen um 17.00 Uhr Ortszeit (16.00 Uhr MESZ). Erste Teilergebnisse, die zunächst wenig Aussagekraft haben, werden noch am Abend erwartet.

Erdogan und Herausforderer werben für hohe Beteiligung

Bei der Stichwahl ums Präsidentenamt zählt jede Stimme. Das wissen auch Amtsinhaber Erdogan und sein Herausforderer und heizen ihren Anhängern ein. Kilicdaroglu sorgt sich um die Wahlsicherheit.

Vor der entscheidenden Stichwahl um das Präsidentenamt in der Türkei haben Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein Herausforderer ihre Anhänger zur Stimmabgabe aufgerufen. Erdogan forderte am Samstag bei einer Rede im Istanbul, die Menschen sollten schon in den frühen Morgenstunden wählen gehen und andere überzeugen, abzustimmen. Seine Allianz aus Nationalisten, Islamisten und Konservativen werde einen «historischen Sieg» einfahren, sagte er. Sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu forderte «diejenigen, die ihr Heimatland lieben» dazu auf, «die Wahlurnen zu schützen.»

Bei der ersten Runde der Präsidentenwahl vor zwei Wochen hatte die Wahlbeteiligung mit rund 87 Prozent bereits historisch hoch gelegen. Erdogan verpasste die absolute Mehrheit nur knapp und lag rund 4,7 Prozentpunkte vor seinem Herausforderer Kilicdaroglu. Die beiden müssen am Sonntag in einer Stichwahl gegeneinander antreten.

Im Parlament konnte das Regierungsbündnis Erdogans vorläufigen Daten zufolge die Mehrheit halten. Internationale Wahlbeobachter bemängelten einen unfairen Wahlkampf und mangelnde Transparenz bei der Abstimmung.

Auch international wird die Abstimmung aufmerksam beobachtet. Die Türkei ist Nato-Mitglied, EU-Beitrittskandidat und beherbergt Millionen geflüchtete Menschen aus Syrien. Im Ukraine-Krieg unterhält sie sowohl zu Kiew als auch zu Moskau gute Beziehungen.

Oppositionsführer Kilicdaroglu tritt für ein breites Bündnis aus sechs Parteien an. Er verspricht, das Land zu demokratisieren. Die prokurdische HDP rief ihre Wähler zudem auf, Kilicdaroglu zu unterstützen.

Bestimmendes Thema vor der zweiten Runde war neben der kriselnden Wirtschaft das Thema Migration. Erdogan und Kilicdaroglu sicherten sich inzwischen die Unterstützung von rechtsnationalen Politikern.

Der Drittplatzierte Sinan Ogan etwa unterstützt in der zweiten Runde Erdogan. Kilicdaroglu wiederum hatte am Mittwoch mit Ümit Özdag, dem Chef der rechten Siegespartei, eine Erklärung unterschrieben, in der es heißt, man habe sich auf die Rücksendung «aller Flüchtlinge und Illegalen» innerhalb eines Jahres geeinigt.

Bei den Parlamentswahlen vor zwei Wochen erhielt Özdags Partei vorläufigen Zahlen zufolge 2,2 Prozent der Stimmen. Die Vereinbarung sorgte selbst in Kilicdaroglus Allianz für Unmut. Kilicdaroglu hatte zwar schon zuvor, die Rückführung von Flüchtlingen versprochen, verschärfte seinen Ton aber nun deutlich.

Sollte Erdogan wiedergewählt werden, stellt sich die Frage, wie er die wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommen will. Außenpolitisch wird Erdogan voraussichtlich seine Annäherungspolitik in der Region fortsetzen. Die Beziehungen zu der EU und den USA bleiben wohl angespannt. Er wird aber auch auf Europa zugehen müssen, denn er benötigt dringend Investitionen. Der Opposition drohen bei einer Niederlage womöglich weitere Repressionen.

Rund 61 Millionen Menschen sind zur Stimmabgabe aufgerufen. Türkische Staatsbürger in Deutschland stimmten bereits ab. Die Wahllokale in der Türkei öffnen um 7.00 Uhr (MESZ) und schließen um 16.00 Uhr (MESZ). Erste Teilergebnisse, die zunächst wenig Aussagekraft haben, werden noch am Abend erwartet.

Erdogan vs. Kilicdaroglu - Kampf um Präsidentschaft

Der türkische Präsident Erdogan ist seit 20 Jahren an der Macht. Erstmals muss er sich einer Stichwahl stellen. Zwar gilt er als Favorit, aber Herausforderer Kilicdaroglu will seinen Sieg mit aller Kraft verhindern.

Bei der Präsidentenwahl vor zwei Wochen verpasst Erdogan die absolute Mehrheit nur knapp. Jetzt geht er an diesem Sonntag als Favorit in die Stichwahl. Ein Überblick über ihn und seinen Gegner Kemal Kilicdaroglu.

Amtsinhaber Erdogan

Präsident Recep Tayyip Erdogan (69) ist einer der einflussreichsten Politiker seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Seine islamisch-konservative AKP kam 2002 an die Macht, 2003 wurde Erdogan Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident.

In seinen ersten Regierungsjahren sorgte Erdogan für einen beachtlichen Wirtschaftsaufschwung. Inzwischen kämpfen die Türken mit hoher Inflation und Arbeitslosigkeit. Seit dem Übergang in ein Präsidialsystem 2018 vereinigt Erdogan so viel Macht auf sich wie nie zuvor. Die EU-Kommission attestierte der Türkei zuletzt demokratische Rückschritte und zunehmenden Druck auf die Zivilgesellschaft.

Erdogan kommt aus dem Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa, seine Familie stammt aus Rize am Schwarzen Meer. Er spielte Fußball in der Amateurliga. Anfang der 1990er Jahre war er Bürgermeister der Metropole Istanbul.

Im Wahlkampf versuchte Erdogan, mit prestigeträchtigen Projekten etwa in der Rüstungsindustrie zu punkten. Die Türkei sei nur unter seiner Führung groß und stark, so stellt er es dar. Er kriminalisiert zudem die Opposition und bezeichnet sie als «Terroristen». In den vergangenen Jahren führte er eine teils aggressive Außenpolitik. Im Ukraine-Krieg gibt er sich als Vermittler.

Erdogan verspricht, die Inflation in den Griff zu bekommen. Unter seiner Führung hat sie erst Rekorde erreicht. Außerdem will er die Erdbebenregion schnell wieder aufbauen. Unterstützt wird er von der ultranationalistischen MHP und kleinen islamistischen Parteien. Erdogan kontrolliert einen Großteil der Medien, was ihm einen Vorteil im Wahlkampf verschaffte.

Der Herausforderer - Oppositionsführer Kilicdaroglu

Die Demokratie stärken, Inflation und Korruption bekämpfen und eine schärfere Migrationspolitik - damit wirbt Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu (74). Er präsentierte sich zunächst als Gegenentwurf zu Erdogan: Ruhiges, statt markiges Auftreten und Wahlkampfvideos aus einer einfachen Küche, statt Einweihung von Großprojekten. Vor der Stichwahl stellte er seine positive Kampagne jedoch auf Angriff um. Er verschärfte seinen Ton vor allem gegen Flüchtlinge und verständigte sich mit einer Rechtsaußenpartei.

Ein neues Gesicht ist auch Kilicdaroglu für die Türken nicht. Er steht seit 13 Jahren an der Spitze der größten Oppositionspartei CHP, kann aber noch keinen Erfolg bei landesweiten Wahlen vorweisen. Seine Kandidatur war auch deswegen zunächst umstritten. Bei den Kommunalwahlen 2019 gelang es der Opposition, der Regierung nach zwei Jahrzehnten die wichtigen Metropolen Istanbul und Ankara zu entreißen. Ein Erfolg, den Kilicdaroglu dank geschickter Allianzen auch für sich verbuchen kann.

Kilicdaroglu hat sechs Parteien unterschiedlicher Lager zusammengebracht, von nationalistisch über konservativ und ultrareligiös bis zu seiner eigenen säkularen Mitte-Links Partei CHP. Die linksgerichtete prokurdische HDP unterstützt ihn zudem.

Kilicdaroglu wurde in Tunceli in der Osttürkei geboren. Er gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an. Er machte als Bürokrat im Staatsdienst Karriere. Das Image des farblosen Bürokraten hängt ihm noch immer nach. Inzwischen hat er aber an Profil gewonnen.

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